Undine Zimmer und ihre Hartz-IV-Familie
Nicht von schlechten Eltern
"Wir haben kein Geld!" Wie es ist, wenn dieser Satz das ganze Leben und Denken bestimmt, das erzählt die deutsche Autorin Undine Zimmer. In ihrem Buch schildert die heute 32-Jährige ihr Aufwachsen als Kind langzeitarbeitsloser Eltern in Berlin.
8. April 2017, 21:58
Undine Zimmers Eltern, über Jahre arbeitslos, stammen aus einfachen Verhältnissen. Sie haben mittleres Bildungsniveau und hätten gern studiert. Für sie ist wichtig: ihre Tochter soll es tun können. Nach der frühen Trennung der Eltern fördert vor allem die alleinerziehende Mutter Interessen und ermutigt die Tochter. So ist es eine heute 32-Jährige mit Fremdsprachenkenntnissen, Auslandserfahrungen und einem abgeschlossenem Studium, die sich daran macht, über ihre Armutserfahrungen zu schreiben - anders als andere Betroffene hat sie als angehende Journalistin die Möglichkeit und Fähigkeit, das zu tun.
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Viele denken heutzutage bei Hartz IV schneller an aggressive Penner als an unterbezahlte Arbeiter, alleinerziehende Mütter, arbeitslose Akademiker, Schuldner in der Ausbildung oder kranke, arbeitsunfähige Leistungsbezieher. Dabei machen diese Gruppen mehr als die Hälfte der 4,43 Millionen Hartz-IV-Empfänger aus. Mehr als die, auf die das Stereotyp des lästigen "Hartzers" möglicherweise passen könnte.
Wohlwollendere denken bei Hartz IV eher an verwahrloste, unschuldige Kinder, die unter dem Versagen ihrer Eltern leiden. Mit meinem Leben hat ein solches Klischee nichts zu tun. Ich saß nie verschmiert auf der Straße, ich habe manchmal Zwieback mit Senf gegessen, weil das am ehesten nach Burger schmeckte, ich bin nie hungrig schlafen gegangen. Wir haben in einer ordentlichen Wohnung gewohnt, wir hatten immer warmes Wasser und Strom.
Nur das Notwendigste einkaufen
Was für viele selbstverständlich ist, muss in Undine Zimmers Familie detailliert kalkuliert werden. Das zeigt sich bei der Kleidung, der kargen Wohnungseinrichtung, beim Einkauf von Lebensmitteln: wohlüberlegt wird meist nur das Notwendigste gekauft. Der Mutter, einer gelernten Krankenschwester, ist es wichtig, gesund zu kochen. So sind Haferflocken als Basis für allerlei Gerichte ein prägender Geschmack der Kindheit. Genauso wie Granny Smith; einige grüne Äpfel waren immer zuhause, als Angebot bei Heißhunger auf Süßes.
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Meine Mutter hat selten nach Kochbüchern gekocht. Meistens haben uns einige wichtige Zutaten gefehlt, so dass wir die Gerichte immer wieder auf das reduziert haben, was wir sowieso beim letzten Einkauf mitgebracht haben. In unseren drei Kochbüchern haben wir meistens nur die Bilder angeschaut. Das schönste war ein vegetarisches Vollkornkochbuch, das wir oft durchgeblättert haben. Manchmal haben wir versucht, Rezepte mit den Zutaten, die wir am ehesten da hatten, nachzukochen. Wir hätten uns vielleicht ein bis zwei der fehlenden Zutaten pro Einkauf leisten können. Aber nie alles auf einmal. Allein die Entscheidung, mit welchem Rezept man hätte anfangen sollen, war irgendwie zu schwer. Erst im Studium habe ich ein paar Rezepte ausprobiert.
Gesellschaftlicher Ausschluss
Es fehlt das Geld, um beim Kochen etwas auszuprobieren - es fehlt auch, um in allen anderen Lebensbereichen Neues zu wagen, so Undine Zimmer. Kein Geld zu haben bedeutet einen gesellschaftlichen Ausschluss, wie es Undine Zimmer auch in ihrem Buch "Nicht von schlechten Eltern - meine Hartz IV Familie" formuliert.
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Aber letztlich geht es bei "kein Geld" gar nicht ums Geld, sondern um Mobilität, Teilhaben am sozialen und kulturellen Leben, um Identität und Selbstbewusstsein.
Die langzeitarbeitslosen Eltern haben genau damit zu kämpfen. Obwohl sie sich auf Neues einlassen und lernen - am Arbeitsmarkt fassen sie nicht Fuß. Ihrer kleinen Tochter aber öffnen sie Perspektiven. Vor allem die alleinerziehende Mutter versucht ihre eigenen Interessen weiterzugeben, ihrem Kind Begeisterungsfähigkeit und Zuversicht zu vermitteln. Es wird viel gelesen, die Bücher günstig gekauft oder ausgeliehen, klassische Musik ist wichtig. Undine Zimmer nimmt für einige Zeit Ballettstunden und Musikunterricht.
Demütigende Behördenwege
"Nicht von schlechten Eltern - meine Hartz IV Familie" erzählt auch von den Beziehungen zu anderen und darüber, wie eine ganze Gesellschaft mit jenen umgeht, die am Existenzminimum leben. Die Autorin beschreibt immer wieder die - wie sie es nennt - "Schnittstellen" zum System. Da fließen dann, wie auch an anderen Stellen des Buches - kurze Texte, Zitate und Notizen ihrer Eltern ein.
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Dass man jede noch so kleine Summe rechtfertigen muss, hat meine Mutter immer am meisten an Hartz IV gestört. Man käme sich dadurch wie ein unmündiger Mensch vor. Weil man mit jedem noch so unbedeutenden Anliegen zum Bittsteller werde, meint sie, entstehe ein Dauergefühl der Demütigung und dabei müsse man auch noch immer sachlich bleiben und geduldig hinnehmen, was man nicht ändern könne.
Gefühle von Ohnmacht, Selbstzweifel - die spürt die Tochter als Kind und sie wirken auch in ihrem Erwachsenenleben nach. Der Werdegang von Undine Zimmer könnte als Aufstieg gelesen werden - Kind langzeitarbeitsloser Eltern, das studiert hat, als freie Journalistin gearbeitet hat, doch wie bei all ihren Schilderungen bleibt die Autorin, darauf angesprochen, sehr differenzierend und stellt die Frage, wie Aufstieg heute zu definieren ist - über das Bildungsniveau? Oder über das Einkommen?
In "Nicht von schlechten Eltern - meine Hartz IV Familie" setzt Undine Zimmer ihre konkreten Erfahrungen auch in Beziehung zu Daten und Informationen aus der Armutsforschung. Die Autorin leitet daraus weder Kritik noch Forderungen ab - obwohl man das beim Lesen des Buches als Fazit fast noch erwartet. Auch möchte sie, da das Buch jetzt erschienen ist und diskutiert wird, kein Sprachrohr von Sozialhilfeempfängern sein.
Text: Veronika Weidinger
Service
Undine Zimmer, "Nicht von schlechten Eltern – meine Hartz IV Familie", S. Fischer
Am 15.Oktober 2013 ist die Autorin mit einer Lesung bei der Armutskonferenz in Salzburg am Podium.