Roman von Chico Buarque

Vergossene Milch

Es gibt für Schriftsteller offene Fallen, die mit großer Wahrscheinlichkeit zuschnappen, wenn sie sich in eine solche begeben. Hundertjährige am Ende eines Jahrhunderts auf ihr Leben zurückschauen zu lassen und dabei nicht nur sich selbst, sondern eine ganze Epoche zu porträtieren, ist so eine Falle. Resultat: Bein- und Genickbruch.

Und dann das: Chico Buarque lässt auf 200 Seiten einen Hundertjährigen, der in einem Krankenhaus in Rio mehr schlecht als recht versorgt wird, schimpfen, fluchen, angeben, anklagen und vor allem erzählen. Zuerst ist nicht ganz klar, ob er Episoden aus seinem Leben zusammenlügt oder ob er es ernst meint – es fehlt der Zusammenhang. Von welchem Brasilien und von welchem Rio de Janeiro ist hier die Rede? Es ist eine Mischung aus Hinterwäldlerei und europäisch gefärbten Salons, aus Cowboyattitüde, Sklavenhaltermentalität und Côte-d'Azur-Entspanntheit, aus Monarchie und Anarchie und viel Korruption.

Doch die Geschichten, die Eulalio in seinem Krankenbett erzählt, fügen sich Stück für Stück zusammen. Es scheint, als würde hier die ganze Oberfläche der Stadt Rio abgetragen, die Hochhäuser, die Favelas, die Autobahnen, der Strand von Copacabana, um darunter eine Stadt und eine ganze Gesellschaft freizulegen, die innerhalb weniger Jahrzehnte aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden sind.

Teil der Geschichte

Wie überall in der sogenannten Neuen Welt ist Geschichte nicht als Nebeneinander sicht- und erfahrbar. Sie ist hier ein Prozess des ständigen Überlagerns und Auslöschens. So kommt es, dass Eulalio zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch von seiner Verwurzelung im portugiesischen Adel profitieren konnte, während diese seiner Tochter nichts mehr nützt. Die Enkel und Urenkel schließlich leben ganz im Hier und Jetzt, sind mit Überleben beschäftigt, mit Drogen, mit politischem Widerstand, mit Gewalt und, als einzige historische Konstante, mit Korruption.

Eulalio selbst muss sich ständig neu definieren. Der Adelsspross und Politikersohn verliert Häuser und Vermögen, seinen Ruf, seine Frau, seine Tochter, die ganze Familie. In den ehemals grünen Hügeln über der Stadt, wo die Reichen ihre Villen hatten, breiten sich die Siedlungen der Armen aus. Entlang der ehemals menschenleeren Küste stehen Hochhäuser. Die ehemals unter Männern mit Herkunft aufgeteilte politische Macht geht nun von einer Hand in die andere - rechte, linke, Militärs. Weiße, Schwarze und Indios leben nicht mehr in getrennten Sphären, es gibt keine klaren Bruchlinien mehr.

Chico Buarques schmaler und doch reichhaltiger Jahrhundertroman funktioniert deshalb, weil er mit dem Bewusstsein des Erzählers Eulalio mitschreibt. Er schaut nicht von außen auf ein Leben und dekoriert es mit historischem Flitter, er schreibt aus der sterbenden, konfusen, zornigen Figur heraus, die immer Teil der Geschichte war, ohne sie aber jemals zu begreifen. Das Buch ist so geschrieben, wie Erinnerung funktioniert, in Stücken, angereichert mit Emotionen, aufrichtig und verlogen zugleich.

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