Sozialrevolutionär, Anatom, Schreibstratege

"Jeder Mensch ist ein Abgrund"

Drei Theaterstücke und eine Erzählung - ein schmales Werk für einen Autor von Weltliteratur, aber viel für einen 23-Jährigen.

Als der am 17. Oktober 1813 in Goddelau bei Darmstadt geborene Georg Büchner sein Revolutionsdrama "Dantons Tod" schreibt, ist er erst 21 Jahre alt, aber die Leichtigkeit der Dialoge, die Hintergründigkeit wie der Witz lassen keinen Anfänger vermuten. Der von der Französischen Revolution enttäuschte Danton, der als Justizminister ein Massaker ("Septembermorde") auf dem Gewissen hat, kritisiert den Tugendterror seines Gegenspielers Robespierre und kommt zu der späten Einsicht: "Ich will lieber guillotiniert werden als guillotinieren lassen."

Aber was kommt da wie nebenbei noch alles aufs Tapet: Liebe und Sex ("Wir wissen wenig voneinander. Wir sind Dickhäuter, wir strecken die Hände nacheinander aus, aber es ist vergebliche Mühe, wir reiben nur das grobe Leder aneinander ab - wir sind sehr einsam."), die Moral und der freie Wille ("Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet? Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst.") sowie die Rede von Gott ("Man kann das Böse leugnen, aber nicht den Schmerz; nur der Verstand kann Gott beweisen, das Gefühl empört sich dagegen. Merke dir es, Anaxagoras: Warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus. Das leiseste Zucken des Schmerzes, und rege es sich nur in einem Atom, macht einen Riss in der Schöpfung von oben bis unten.") Im Stück hat Danton Büchners Vornamen: Georg.

Friede den Hütten! Krieg den Palästen!

Büchner hatte ein gescheitertes Revolutionsmanifest geschrieben, den "Hessischen Landboten". In biblischer Sprache polemisiert diese Flugschrift gegen die "gottgewollte" Herrschaft - untermauert mit genauen Statistiken über Steuern und Ausgaben des Großherzogtums Hessen. "Friede den Hütten! Krieg den Palästen!" steht als Kampfansage am Beginn. Für die Verbreitung der Schrift kommen Freunde von Büchner ins Gefängnis, während er rechtzeitig nach Straßburg fliehen kann. Er ist kein Verräter, sieht aber keinen Sinn mehr in der politischen Agitation und geht den Weg in die Kunst. Er treibt dabei "Wortkeile in Gewissheitsspalten", wie Hermann Kurzke in seiner fulminanten neuen Biografie "Georg Büchner. Geschichte eines Genies" schreibt.

Büchner ist ein Radikaler - in seinem Denken wie in seiner Sprache, politisch wie privat. An seine Geliebte Wilhelmine Jaeglé schreibt er: "Ich mag nicht hinter jedem Kusse die Kochtöpfe rasseln hören und bei den verschiedenen Tanten das Familienvatergesicht ziehen."

Einem Künstler an der Grenze zum Wahnsinn gilt Büchners einzige, Fragment gebliebene Erzählung "Lenz". Wie er den Leser dabei ganz in den Goethe-Zeitgenossen Jakob Michael Reinhold Lenz hineinversetzt und ihn nur wenig mehr erkennen lässt als diesen selbst, welche präzisen und unverwechselbaren Bilder er für den Weg in den Wahnsinn findet, das macht ihm - zumal im 19. Jahrhundert - keiner nach. Wie überhaupt neben seinen Sätzen so manche Autor/innen, die zum Bildungskanon gehören, behäbig, gemütlich, nebensächlich oder leicht angestaubt wirken.

Jeder Mensch ein Abgrund

Büchner hatte wenig Zeit - 1837 stirbt er mit 23 Jahren in Zürich an Typhus; aber auch, weil er tagsüber verbissen an seiner Karriere als Naturwissenschaftler - als Anatom - arbeitet und für seine Literatur nur die Nächte hat. Wie "Dantons Tod" entsteht auch das Lustspiel "Leonce und Lena" in nur wenigen Wochen. Es huscht mit einem artistischen Lachen über so ziemlich alles hinweg, was nicht nur dem damaligen Bürgertum heilig ist: die Arbeit, die Nation und der Staat. Auf die ironische Aufforderung "So wollen wir nützliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft werden" antwortet Leonce: "Lieber möchte ich meine Demission als Mensch geben."

"Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht", lautet einer der unvergesslichen Sätze des Dramas "Woyzeck", einer Liebestragödie unter Armutsbedingungen. Der Barbier Woyzeck, der seine Marie ersticht, weil sie ihn mit einem Tambourmajor betrogen hat, kann sich in knappen Diagnosen wie dieser äußern: "Es ist keine Kunst, ein ehrlicher Mann zu sein, wenn man täglich Suppe, Gemüse und Fleisch zu essen hat." Jede Aufführung des Stückes ist eine Rekonstruktion - Büchner konnte es nicht mehr vollenden, auch welche Szenenfolge ihm vorschwebte, ist unklar. Uraufgeführt wird "Woyzeck" erst 1913 - zu Büchners 100. Geburtstag.

Im 20. Jahrhundert entfaltet Georg Büchner eine ungeahnte Wirkung: In den Opern "Wozzeck" von Alban Berg und "Dantons Tod" von Gottfried von Einem, in Büchner-Bezügen von Paul Celan bis zu Andrea Winklers jüngstem Prosaband "König, Hofnarr und Volk", aber auch in den Dankesreden bei Deutschlands renommiertester literarischer Auszeichnung, dem Büchnerpreis. Georg Büchners Wirkung ist noch lange nicht zu Ende.