Warum wir verstehen, was andere fühlen
Unser empathisches Gehirn
Warum bewegt ein Pianist seine Finger, wenn er einem Klavierstück lauscht? Warum leiden wir mit, wenn jemand anderer Schmerz empfindet? Warum bekommen wir eine Gänsehaut, wenn wir im Kino eine ergreifende Liebesszene sehen? Der belgische Neurowissenschaftler Christian Keysers liefert in seinem neuen Buch "Unser empathisches Gehirn" mögliche Antworten.
8. April 2017, 21:58
Der internationale Experte für Spiegelneuronen Christian Keysers ist davon überzeugt, dass Empathie in der Struktur unseres Gehirns tiefer verwurzelt ist, als bisher angenommen und dass wir folglich von unserem Wesen her bestimmt sind, die Verbindung zu anderen zu suchen.
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Das menschliche Gehirn ist wohl das komplexeste Organ im bekannten Universum. Und doch spüren bereits Siebenjährige, dass sie mühelos erfassen können, was im Geist - und damit im Gehirn - der Menschen ihres Umfelds vor sich geht.
Entdeckung der Spiegelneuronen
Die moderne Hirnforschung begann sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit grundlegenden Fragen auseinanderzusetzen: Wie merken wir uns etwas? Wo ist die Sprache im Gehirn lokalisiert? Wie bewegt unser Denkapparat den Körper? Erst vor rund 30 Jahren wandte man sich den Emotionen zu. Lange Zeit interessierte sich niemand für die scheinbar triviale Frage, warum wir die Gefühle anderer relativ einfach erkennen, nachempfinden oder teilen können. Und das ohne große Anstrengung und meist ohne bewusstes Zutun.
Bis Neurowissenschaftler in Parma Anfang der 1990er Jahre die Spiegelneuronen entdeckten. Diese speziellen Gehirnzellen "spiegeln" das Verhalten und die Gefühle von Menschen in unserer Umgebung in etwa so, dass diese Teil von uns selbst werden. Diese Entdeckung hat dabei geholfen, menschliches Verhalten besser zu verstehen. Beispielsweise die Frage, warum es so schwierig ist, Diät zu halten, wenn andere es nicht tun.
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Wenn Sie sich ein Stück Schokolade nehmen und es essen, wird ein bestimmtes Netz von Gehirnzellen aktiviert - nennen wir es das "Iss-die-Schokolade-Netz". Der Anblick von Leuten, die Schokolade essen, löst in uns ein Gefühl aus, das uns sagt, wie es wäre, das Gleiche zu tun.
Grenzen zwischen Personen sind durchlässig
Entdeckt wurden die Spiegelneuronen bei Experimenten mit Affen. Es begann mit einer Rosine. Die Forscher in Parma fanden heraus, dass bestimmte Nervenzellen nicht nur dann reagierten, wenn ein Affe nach einer Rosine griff, sondern auch, wenn er zusah, wie ein anderer Affe dies tat.
Spiegelneuronen erklären aber nicht nur unsere Fähigkeit zur Empathie. Für Christian Keysers sind sie überhaupt der Schlüssel zum menschlichen Miteinander. In seinem "Social Brain Lab" in den Niederlanden entdeckte er unter anderem sogenannte "gemeinsame Schaltkreise" im Gehirn, die erklären, wie eine Verbindung zwischen unserem individuellen Geist und den Menschen um uns herum entsteht. Er kommt zum Schluss, dass die Grenzen zwischen Personen durchlässig sind und sich soziale und private Welt mischen.
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Emotionen und Aktionen erweisen sich als ansteckend. Das unsichtbare Band gemeinsamer Schaltkreise schließt unsere Empfindungen und Gefühle zusammen und schafft ein organisches System, das über das Individuum hinausreicht.
"Erlernte" Spiegelneuronen
Dass das "Spiegelsystem" allerdings nicht von Geburt an festgelegt ist, beweist ein Experiment der Universität Hannover. Dort wurde eine Gruppe von Versuchsteilnehmern, die nie Klavier gespielt hat, mit einer, die seit Jahren intensiv spielte, verglichen. Beide Gruppen hörten sich ein Klavierkonzert an, während ihre Gehirnaktivitäten gemessen wurden. In den prämotorischen Arealen der Nichtspieler kam es zu kaum messbaren Aktivitäten. Die Spieler hingegen waren in diesen Gehirnbereichen höchst aktiv, sogar Fingerbewegungen waren deutlich wahrzunehmen.
Ähnlich spannend liest sich das Kapitel über autistische Menschen. Bei ihnen ist die Fähigkeit der Empathie enorm eingeschränkt. Sie haben starke Defizite bei der sozialen Intuition und Interaktion. Liegt bei Autisten eine Funktionsstörung der Spiegelneuronen und der gemeinsamen Schaltkreise vor?
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Beim Autismus ist der Spiegel mitempfundenen Handelns, Fühlens und Empfindens nicht "zerbrochen", sondern nur ein wenig beschlagen und verzögert. Therapien, die dem autistischen Gehirn helfen, stärkere gemeinsame Schaltkreise früher zu entwickeln, könnten der Entwicklung sozialer Funktionen sehr zuträglich sein.
Kulturelle Unterschiede
Unsere Spiegel, so Keysers, zeigen nicht immer das, was wir sehen möchten und so malen wir uns gerne auch einmal ein eigenes Bild. Manchmal interpretieren wir beispielsweise ein Lächeln als Zustimmung, auch wenn es nur höflich gemeint war. Als Hauptgrund dafür führt er egozentrische Wahrnehmungsverzerrungen an. Aber auch kulturelle Unterschiede können verwirren. Soziale Intuition funktioniert folglich vor allem dann, wenn Menschen sich relativ gut kennen.
Keysers Empfehlungen, sich einen möglichst ähnlichen Liebespartner zu suchen, sind in diesem Zusammenhang allerdings mindestens ebenso unfundiert wie unnötig. Sie trüben den Eindruck ein wenig, einen durchwegs spannenden Einblick in laufende Forschungen in Händen zu halten. Warum wir verstehen, was andere fühlen, wird in diesem Buch schließlich sehr lebensnah und verständlich beschrieben, persönliche Interpretationen sind also überflüssig.
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Empathie ist in der Architektur unseres Gehirns tief verankert. Was mit anderen geschieht, wirkt sich auf fast alle Regionen unseres Gehirns aus. Wir sind von unseren Anlagen dazu bestimmt, uns empathisch zu verhalten, die Verbindung zu anderen zu suchen.
Service
Christian Keysers, "Unser empathisches Gehirn. Warum wir verstehen, was andere fühlen", aus dem Englischen übertragen von Hainer Kober, C. Bertelsmann