Das Erfolgsgeheimnis der Evolution
Kooperative Intelligenz
Nicht jeder akademische Weg führt über Oxford und Princeton schnurstracks nach Harvard; erst recht nicht, wenn dessen universitärer Ausgangspunkt in Wien liegt und schon gar nicht, wenn der, von dem die Rede ist, in Klosterneuburg und nach 1945 geboren worden ist.
8. April 2017, 21:58
All dies trifft auf den Biologen und Mathematiker Martin Nowak zu, aber was wäre ein Wirklichkeit gewordenes Märchen ohne einen Hollywood-reifen Plot: Ein österreichischer Professor sitzt in seinem Arbeitszimmer an einer amerikanischen Eliteuniversität. Das Telefon klingelt, der Professor wird von einem Wallstreet-Tycoon in ein Gespräch verwickelt, tags darauf wird sein Institut mit einer großzügigen Spende bedacht. Später wird der Professor mit des Tycoons Hubschrauber auf dessen karibische Privatinsel geflogen:
"Ich blickte über kobaltblaues warmes Wasser hinweg. Jeffreys tropisches Eiland war gerade einmal 45 Hektar groß. Blaue Fensterläden schmückten mein Gästehaus. Das Interieur hatten Künstler ausgestaltet, die aus Frankreich eingeflogen worden waren. Mehrere solcher Häuschen verteilten sich um einen Hof mit Springbrunnen und einem nierenförmigen Swimmingpool. Am letzten Tag sagte mir Jeffrey, dass er ein Institut für mich bauen werde."
Gesagt, getan. Seit 2003 ist Martin Nowak Direktor des auf so wundersame Weise für ihn erschaffenen Harvard-Instituts mit dem verheißungsvollen Namen "Program for Evolutionary Development", kurz PED, und entgegen der anfänglichen, scherzhaften Auflösung des Akronyms in "Party every day" durch seine Kollegen wird dort seit zehn Jahren so ziemlich das Gegenteil von Party gemacht, nämlich naturwissenschaftliche Knochenarbeit, deren Anspruch kein geringerer ist als jener, dem Geheimnis der Evolution durch mathematische Beweisführungen auf die Spur zu kommen.
Langfristiger Erfolg zählt
Längst ist es nicht mehr Epstein, sondern Nowak selbst, der die weltweit besten Köpfe seines Faches einfliegen lässt, um mit ihm an mathematisch präzise untermauerten Theorien zu arbeiten, deren thematische Bandbreite von den biochemischen Voraussetzungen für die Entstehung von Leben bis zur Verlaufsprognose von Krebserkrankungen reicht.
So weit diese Vorgänge chronologisch auch auseinanderliegen mögen, also rund vier Milliarden Jahre, so sehr sind sie durch jene Klammer verbunden, die Nowak "kooperative Intelligenz" nennt und im Wesentlichen die Fähigkeit und Bereitschaft aller prinzipiell konkurrierenden Zellverbände meint, "klug" zu handeln und zugunsten eines mittel- oder langfristigen Erfolgs kurzfristige Niederlagen in Kauf zu nehmen.
Darwin fortgeschrieben
Was zunächst nach einer Antithese zur Darwin'schen Evolutionstheorie klingt, will Nowak bewusst nicht als solche, sondern vielmehr als Fortschreibung beziehungsweise Präzisierung derselben verstanden wissen. Längst geht es in der Evolutionstheorie nicht mehr um ein Entweder-oder, sondern um taugliche Modelle zur Beschreibung eines sich ständig wechselseitig beeinflussenden Sowohl-als-auch:
Zitat
Kooperation und Konkurrenz liegen wie Tag und Nacht oder Gut und Böse in einem ewigen Clinch miteinander. Um die Früchte der Kooperation zu ernten, muss mindestens ein Mechanismus greifen, welcher der rastlosen und deprimierenden Neigung der natürlichen Auslese entgegenwirkt, die durchschnittliche Fitness einer Population im Gefangenendilemma zu zerreiben.
Mit der mathematischen Beschreibung von Bedingungen für diese Außer-Kraft-Setzung von Defektion hat sich Martin Nowak sein ganzes bisheriges Forscherleben lang beschäftigt, und das im englischen Original bereits 2011, nun – man möchte sagen: endlich - auf Deutsch vorliegende Buch macht auf großartige Weise deutlich, wie leidenschaftlich Mathematik auf höchstem akademischen Niveau betrieben und mit atemberaubenden Suspense vermittelt werden kann.
Legitime Nachfolge von John Maynard Smith
Wenngleich Martin Nowak das spieltheoretische Rad nicht neu erfunden hat – immerhin hat John von Neumann sein Hauptwerk bereits 1944 veröffentlicht -, dreht er es auf eine Weise weiter, die ihn unbestreitbar in die legitime Nachfolge des 2000 verstorbenen Pioniers der evolutionären Spieltheorie, John Maynard Smith, stellt. Smith, der – so will es die von Nowak im Buch nacherzählte Legende – kam über einen durch den Briten John Burdon Sanderson Haldane inspirierten Science-Fiction-Roman zur Populationsgenetik.
Haldane, den Nowak für einen "der bedeutendsten und bemerkenswertesten Charaktere der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts" hält, erlangte einige Berühmtheit mit dem Satz: "Mein Verdacht ist, dass die Welt nicht nur sonderbarer ist, als wir annehmen, sondern noch sonderbarer, als wir annehmen können." Noch wunderbarer, als man vor der Lektüre annehmen kann, ist der Umstand, dass uns Martin Nowak nicht nur mit Dutzenden Beispielzitaten zur Poesiefähigkeit von Wissenschaftssprache versorgt, sondern dass es ihm darüber hinaus in selten souveräner Manier gelingt, den Kern seiner hochkomplexen Forschung für ein breites Publikum aufzubereiten, ohne sich dabei des anbiedernden Science-Buster-Sprechs zu bedienen, ist bestimmt auch dem Wissenschaftsjournalisten und Koautor des Bandes, Roger Highfield, zuzuschreiben, der Nowaks Arbeit seit vielen Jahren publizistisch begleitet. Man dankt es beiden und braucht kein Hellseher zu sein, um den gebürtigen Klosterneuburger Nowak auf dem Radar des schwedischen Komitees Jahr für Jahr heftiger blinken zu sehen.
Text: Josef Bichler
Service
Martin A. Nowak, Roger Highfield, "Kooperative Intelligenz. Das Erfolgsgeheimnis der Evolution", aus dem Englischen übersetzt von Enrico Heinemann, C. H. Beck