Marcel Proust auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf dem Weg zu Swann

Das Bild von Marcel Duchamp "Ein Akt, die Treppe hinabsteigend" löst mittels Aneinanderreihung von stroboskopartigen, kubistischen Einzeldarstellungen einer nackten Frau Bewegung und Zeit im Raum auf. Es entsteht 1912 und das Verfahren ähnelt auf verblüffende Weise jenem, das zur selben Zeit der Schriftsteller Marcel Proust anwendet, um sich in seinem monumentalen Romanzyklus auf die "Suche nach der verlorenen Zeit" zu begeben.

Proust - Snob und Privatier, asthmakrank seit seiner Kindheit, Erbe eines kleinen Vermögens, gelernter Jurist und Kurzzeitbibliothekar, Verwandter des Philosophen Henry Bergson, unter dessen Einfluss er gerät - beginnt seine "Recherche" nach dem Tod seiner Eltern, der ihn in tiefe Depression stürzte, und nach einer unglücklichen Liebe zu seinem Chauffeur, der seinerseits eigentlich verlobt ist. Die Heilungsversuche mithilfe der damals neuen und eigenwilligen psychiatrischen Therapiemethode "Isolation" und Nötigung zu "unwillkürlicher Erinnerung" hatten nicht besonders gefruchtet – sie stellten aber die äußeren Bedingungen dar, unter denen Marcel Proust ungefähr zehn Jahre lang die Pariser Welt der Belle Epoque vor dem Ersten Weltkrieg zu sezieren begann. Am Ende dieser überbordenden, siebenbändigen Beschreibung, steht die "wiedergefundene Zeit": die Hauptfigur ist – wie in Marcel Duchamps Bild - angekommen, die Zeit steht still.

Im Reich der Schlaflosigkeit

"Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen." Mit diesem lakonischen Anfangssatz begibt sich der Ich-Erzähler in ein grenzenloses Reich der Schlaflosigkeit und der Literatur: Er verwandelt sich sogleich in das Buch, in dem er als Kind soeben noch las, er verwandelt sich in die Figuren dieses Buches; begibt sich zwischen Wachen und Schlafen in die umgebende Landschaft, drückt seine Wange an das Kissen, schläft ein, wacht sogleich wieder auf und träumt weiter. Aus der falschen Lage seines Schenkels wird "ein Weib geboren"; ein Mensch, heißt es da, der schläft, "hält in einem Kreis um sich das Band der Stunden, die Folge der Jahre und der Welten versammelt."

Der derart räsonierende Erzähler, der erst sehr viel später den quasi autobiografischen Namen Marcell erhält, fliegt "in einem Augenblick über Jahrhunderte der Zivilisation hinweg" und gelangt zurück nach Combray, jenen Ort in der Normandie, an dem er seine Kindheit bei seinen Großeltern verbrachte. Es folgen ein erster Blick auf die Welt der Madame de Saint-Loup, Klagen über kindliches Unglück, ein Zwischenstopp und eine Rückblende in der Rückblende zum Moment vor dem Schlafengehen:

Diese Erwartung wurde oft genug enttäuscht, es gibt da einen Konflikt mit dem Vater, Marcel schläft noch immer nicht, stattdessen belauscht er aus der Entfernung seines Kinderbettes die Stimmen unten: Monsieur Swann ist zu Gast, ein Freund des Großvaters und dezenter Akteur in der großen Welt der Pariser Salons. Der kleine Marcell schläft auch jetzt nicht ein, der Erzähler aber setzt eine soziologische Reflexionsmaschine in Gang, die in der Folge zwischen vier- und fünfhundert Personen und deren gesellschaftlichen Status umkreisen wird. Als da sind im proustschen Namenslexikon: Repräsentanten aller Gesellschaftsschichten, von Onkel Adolphe bis zu Mademoiselle Vinteuille. "Unsere gesellschaftliche Persönlichkeit ist eine Schöpfung des Denkens der anderen", heißt es einmal.

Momente festhalten

Marcell Proust nachzuerzählen ist nicht nur ein vermessenes und heilloses und Unterfangen - wie bei keinem anderen Autor sträubt sich seine Prosa gegen jegliche Art von Paraphrase! Zwischen Gesprächen über Ästhetik, Alltagsklatsch und Politik, minimalistischen Episoden, die die Erzählung weitertreiben, geht es bei Proust vor allem darum, in immer weiter mäandernden Anläufen bestimmte Momente festzuhalten - Momente des Glücks – und diese bis zu maximaler Transparenz zu fixieren.

Zur Erinnerung: Wir befinden uns vorerst noch immer auf Seite 65 und bei den Einschlafproblemen des kleinen Marcell, dem "Drama meines Zubettgehens". Inmitten ausufernder Sätze kristallisiert sich plötzlich etwas wie Einsicht, eine Art Erleuchtung heraus – die nicht nur das Kind verblüfft und erschüttert, in Prousts Worten wird in diesem Moment "das ganze Weltgebäude erschüttert."

Der Anlass für diese kleine Ekstase ist ein bestimmter Geschmack: Die Mutter hat Marcel eine Tasse Tee gebracht, dazu eine "Madeleine", ein Stück Kuchen. Der Geschmack beider vermischt sich, löst einen Rausch der Erinnerung aus und lässt die Welt in neuem Licht erscheinen. Aus der Tasse Tee taucht eine Landschaft auf - die Seerosen der Vivonne, die Menschen des Dorfes, die ganze Umgebung von Combray - "alles was Form und Gestalt annehmen kann, Stadt und Gärten." Die Welt ist in diesem Moment ganz.

Momente der Ekstase

Zwischen der Erzählung von Pariser Theaterbesuchen, Disputen über Kunst und Schauspieler, über das französische Judentum zur Zeit der Dreyfuss-Affäre, oder der Begeisterung für die Frauenfiguren des Renaissancemalers Giotto, die Monsieur Swann dem kleinen Marcell nahebringt, kehrt Proust immer wieder zu diesen Moment der Ekstase zurück: Sie sind der Inhalt der "Suche nach der verlorenen Zeit". Sie stellen sich ein, als der Erzähler einmal über einen Randstein stolpert, oder beim Anblick einer Weißdornhecke:

Es handelt sich um literarischen Helium-Konsum pur!

Liebe in einer mondänen Welt

Der zweite Teil von "Auf dem Weg zu Swann" erzählt von der leidenschaftlichen und unglücklichen Liebe des Charles Swann in dritter Person. Die mondäne Welt der Verdurins und ihres Salons am Faubourg Saint-Germain wird aufgerollt, man streitet darüber, wie Wagner richtig zu spielen ist, was sogenannte einfach Frauen mit den Göttinnen auf Botticellis Bildern gemeinsam habe – Kutschenfahrten, Eifersuchtsszenen einer schier endlosen Intrige, die mit der koketten Odette de Crécy an die Rivierea führt; selbige Odette begleitet Swanns Nebenbuhler Forcheville nach Bayreuth und Ägypten und verschwindet schließlich auf eine Seereise mit den Verdurins. Der ernüchtere Liebhaber Swann bekennt am Ende: "Soll man's glauben, dass ich Jahre meines Lebens vergeudet habe, dass ich habe sterben wollen, dass ich meine größte Liebe erlebt habe – für eine Frau, die mir nicht gefiel, die nicht mein Fall war!"

Im dritten und letzten Teil von "Auf dem Weg zu Swann" werden der Kurort Balbecc, Pariser Kindheitsspaziergänge des Erzählers und dessen sehnsüchtige Blicke auf Gilberte, die Tochter Swanns, miteinander verklammert. Alles fügt sich in ein Bild impressionistischer Melancholie über eine Welt, die nach 1913, dem Jahr, als der erste Band der "Recherche" erschien, unwiederbringlich verlorenen ging.

Beginn der Suche

Marcel Proust hat damit seine "Suche nach der verlorenen Zeit" allerdings erst begonnen – eine Suche, die ihn nicht nur in den "Schatten junger Mädchenblüte", nach "Sodom und Gomorrha" und in die "Welt der Guermantes" führen wird – innehalten wird der Erzähler, der seine Leser seit einhundert Jahren nicht aus seinem Bann entlässt, erst, wenn die Zeit still steht. Also nie. Auch wenn später von "Wiedergefundener Zeit" die Rede sein sollte.

Die Neuübersetzung der "Suche nach der verlorenen Zeit" durch Bernd-Jürgen Fischer ist nicht besser als die bisherigen Übersetzungen, aber auch nicht schlechter: sie ist spröder, manchmal vielleicht ungelenker, macht damit aber auch jene sperrigen Wendungen deutlicher, die ein Autor vollzog, um klar und deutlich zu demonstrieren: ein einheitliches Ich gibt es nicht mehr. Zurückgewinnen kann es wohl nur, wer sich in der Lektüre von Marcel Proust verliert.

Service

Marcel Proust, "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", Band 1 "Auf dem Weg zu Swann", Übersetzung und Anmerkungen von Bernd-Jürgen Fischer, Reclam