Bibelkommentar zu Matthäus 11, 2 - 11

Es ist in gewisser Weise ein "anderer" Johannes, von dem heute die Rede ist. Es ist diesmal keiner, der lautstark polternd die Menschen als Schlangenbrut beschimpft und sie zur Veränderung ihres Lebens aufruft.

Es ist auch nicht der Johannes, zu dem trotz seiner markigen Sprüche viele in die Wüste hinauskommen und ihn eindringlich fragen, wie sie denn tun und wie sie ihr Leben gestalten sollen und von dem sie sich schließlich taufen lassen. Nein, der Johannes, der da in diesem Evangeliumstext spricht, ist ein politischer Gefangener, einer, der als Regimekritiker ins Gefängnis gekommen ist – seiner Freiheit, seiner Kontakte und seiner Predigtmöglichkeit beraubt, aus dem Verkehr gezogen, unschädlich gemacht. Vermutlich hat er wenigstens Besuch von seinen Anhängern bekommen dürfen, denn diese haben ihn über Jesus und dessen Taten auf dem Laufenden gehalten. Diese seine Freunde schickt Johannes nun aus, um Jesus eine Frage zu stellen.

Diesmal ist also er es, der eine Frage stellt. Johannes und Jesus begegnen einander dabei physisch nicht, und doch begegnen sie einander auf eine ganz besondere Weise sehr intensiv und sehr persönlich. Es ist die Frage eines Menschen, der im Gefängnis auf das Wesentliche reduziert ist, der bedürftig, unsicher und wartend ist: „Bist du es, der kommen soll, oder müssen wir auf einen anderen warten?“ Matthäus ist mit diesem einen Satz des Johannes sehr knapp, aber ich vermute, dass es nicht nur dieser eine kurze Satz war, sondern dass es dahinterliegende Fragen gab: Jesus, wer bist du eigentlich? Hat es sich für mich gelohnt, mein Leben lang auf dich zu warten, alle meine Karten auf dich zu setzen, mein Lebensprojekt und meine ganze Lebenskraft auf dich auszurichten? Bist du wirklich der Messias, auf den ich so warte?

Jesus gibt keine direkte, schnelle Antwort. Er verweigert gleichsam die Auskunft und verweist auf Jesaja, „den“ messianischen Propheten. Die Freunde des Johannes sollen selber hören und sehen, was den Blinden, den Lahmen, den Aussätzigen, den Tauben, den Toten und den Armen widerfährt – dass ihnen Heilung, neues Leben, umfassende Veränderung, Wandlung zukommt. Und genau davon sollen sie Johannes berichten. Viermal kommt beim Propheten Jesaja eine solche Aufzählung von sichtbaren und hörbaren, spürbaren und greifbaren Heilstaten Gottes vor, an denen das Kommen des Messias und somit die neue Zeit, das Reich Gottes, erkennbar sein werden. Die Heilung von Aussätzigen ist im Matthäusevangelium neu eingefügt, was wahrscheinlich ein Indiz für die Aktualität des Leidens war. Allerdings fehlt an dieser Stelle die Befreiung von Gefangenen, die in den Aufzählungen im Jesajabuch durchaus kommt – was ein wenig makaber anmutet angesichts der Gefangenschaft des Johannes.

Es gab damals zwei Grundrichtungen in der Messiaserwartung. Die eine: Gott kommt mit Zeichen von Macht und Gewalt, umstürzend und furchterregend. Die andere: Gott kommt heilend und befreiend, tröstend und bergend, auf eine ganz andere Art mächtig. Dass das nicht immer einfach zu unterscheiden und zu lösen war, dass sie die Gemüter erregt hat und heftige Kontroversen ausgelöst hat, liegt auf der Hand. Ob so oder so, die Frage nach dem Messias kann Ärgernis und Anstoß geben. „Selig, wer an mir keinen Anstoß nimmt“, heißt es daher im unmittelbar nachfolgenden Vers.

Im zweiten Teil des Evangeliums geht die Blickrichtung von den Jüngern des Johannes zur Menge um Jesus, und Jesus stellt konfrontierende Fragen, was die Menschen hier eigentlich wollten. Die Fragen sind so eindringlich aneinandergereiht, dass sie zunächst gar keine Antwort zulassen, so, als ob Jesus ordentlich aufrütteln wollte: Was habt ihr hier gesucht? Was habt ihr eigentlich sehen wollen? Ein Schilfrohr im Wind, oder feine Leute? Wozu seid ihr hinausgegangen? Nach diesen zunächst heftigen Worten Jesu traut er ihnen schließlich doch zu, dass sie tatsächlich mehr, nämlich einen Propheten, gesucht haben, also einen, der auf Größeres hinweist. Und er weist mit dem Wort aus dem Buch des Propheten Maleachi Johannes einen unvergleichlichen Stellenwert in der Heilsgeschichte zu: Er ist der Bote, derjenige, der den Weg für den Messias bereitet. Mit dem „Amen – es hat keinen Größeren gegeben als Johannes“ würdigt Jesus Johannes als den Größten der Menschen. Auch wenn gleich danach durch Jesus mit schroffen Worten alles auf den Kopf gestellt wird: Das Himmelreich, das Reich Gottes, relativiert alles Bisherige.

Ich glaube: Wenn der Messias kommt und wenn sein Reich und seine neue Zeit anbrechen, dann werden uns Hören und Sehen vergehen. Und zugleich werden wir sie sehen und hören, spüren und greifen – mit allen Sinnen. Uns danach auszustrecken, dazu wäre jetzt eine Möglichkeit, das ist ja der Sinn des Advent.