Essays von Karl Schlögel

Grenzland Europa

Wer sich für Osteuropa und Russland interessiert, kommt an Karl Schlögel nicht vorbei. Wie kaum ein anderer beobachtet und analysiert der deutsche Historiker und Publizist die Vorgänge und die Alltagswirklichkeit im so genannten Osten. "Grenzland Europa. Unterwegs auf einem neuen Kontinent" heißt sein neuer Essayband, der jetzt im Hanser-Verlag erschienen ist.

Morgenjournal, 20.12.2013

"Es gibt ein Europa, das intakt ist und funktioniert, das aber in dem ganzen Krisendiskurs nicht vorkommt", schreibt Karl Schlögel gleich am Beginn seines Buches.

Es ist die kritische Bilanz eines Vierteljahrhunderts, die Karl Schlögel hier vorlegt. Sein Bezugspunkt ist 1989, das Jahr der politischen Umwälzungen in den europäischen Ostblockstaaten. Die Finanzkrise von 2008 sieht Schlögel als zweiten Teil dieser "großen Abwicklung", wie er es nennt. "In Abwicklung Teil I waren wir im Westen nur Zuschauer", schreibt er, "in Teil II sind wir selber an der Reihe".

Es sind Vorträge und Essays aus 20 Jahren, die da in einem Band versammelt sind, verbunden sind sie nicht nur thematisch, sondern auch durch die Methode, die literarische Herangehensweise: Karl Schlögel setzt auf Details und: hier schreibt einer, der das genaue Hinschauen beherrscht, die genaue Beobachtung des Alltags. - Was uns optimistisch machen könnte, ist die Erfahrung der Krisenbewältigung nach 1989, schreibt Karl Schlögel. Das Tag-für-Tag von den Bürgern im östlichen Europa praktizierte Sich-Durchwursteln habe mehr zur Bewältigung der Krise beigetragen als irgendwelche Visionen oder Lehrbuchrezepte.

"Den Austausch zu intensivieren, das stimmt ja. Aber gleichzeitig: Es gibt einen Austausch einer ganz neuen Migration, die es in diesem Ausmaß in Europa überhaupt nie gegeben hat. Oder: es gibt inzwischen Studentengenerationen, die in mehreren Ländern der Welt zuhause sind. Also es tut sich etwas und mein Plädoyer ist nur, sich an den lebendigen Kräften, an diesen Kriechströmen, die übersehen werden, zu orientieren", sagt Karl Schlögel.

Diese Kriechströme zwischen Rotterdam und Moskau, zwischen Malmö und Rom, diese Korridore, die über die alte Grenze hinwegführen, sind die wahren Säulen des europäischen Zusammenhalts, meint Karl Schlögel. Und er appelliert an die Politik.

"Was zu leisten wäre, ist, diesen Zustand des Unübersichtlichen, des Unklaren auszuhalten und nicht in Panik zu verfallen, aber auch nicht zurückzustecken, sondern aus dieser Situation, die unvermeidlich ist, etwas zu machen. Das würde ich auch für das Genie der Politik im Augenblick halten: nicht die Nerven zu verlieren, sondern mit diesen flüssigen, unübersichtlichen Verhältnissen umgehen zu können", sagt Karl Schlögel.

Die flüssigen, unübersichtlichen Verhältnisse erhellt Karl Schlögel jedenfalls mit seinen Berichten, Erzählungen und Betrachtungen. Seine Mikroanalysen schärfen den Blick für das Ganze.