Reise durch ein Land im Aufruhr
Ein neues Ägypten?
Am 25. Jänner jährt sich zum dritten Mal der Beginn jener Großkundgebungen in Ägypten, die am 11. Februar 2011 zum Rücktritt von Langzeit-Diktator Hosni Mubarak führten. Eine neue Ära schien angebrochen zu sein. Doch die erste Ernüchterung folgte bald. Wo steht das Land heute? Dieser Frage geht der Politologe Asiem el Difraoui in seinem Buch nach.
8. April 2017, 21:58
Gleich auf den ersten Seiten macht Asiem el Difraoui eines klar: Wie sich Ägypten weiter entwickeln wird, ist derzeit überhaupt nicht absehbar. Ob ein zweiter demokratischer Neuanfang gelingt, ob das Militär sich an der Macht festklammert oder gar ein Bürgerkrieg ausbricht - darüber zu spekulieren, sei müßig. Politische Umbrüche sind komplex und diffus und gewinnen erst durch die ordnende Hand von Historikern im Rückblick eine Übersichtlichkeit, die ihnen zunächst nie zu Eigen ist.
In der dritten Kraft sieht Asiem el Difraoui den wichtigen Unterschied zu den 1950er Jahren, als das Militär unter der Führung von Gamal Abdel Nasser die Macht innehatte und die damalige Führung der Muslimbrüder festnehmen ließ. Die ägyptische Gesellschaft habe sich inzwischen fundamental verändert, betont Asiem el Difraoui, der zurzeit Senior Fellow am Institut für Medien- und Kommunikationspolitik in Berlin ist.
Asiem el Difraoui wollte hinter die Schlagzeilen blicken und hinter die Berichterstattung über die Machtkämpfe in Kairo. Deshalb hat er sich auf eine Reise begeben, die ihn in ganz verschiedene Landesteile geführt hat. Gesucht hat er dabei vor allem Gespräche mit normalen Bürgern und Bürgerinnen, mit Mitgliedern der Muslimbruderschaft, mit Salafisten, Christen, Frauen- und Bürgerrechtsaktivistinnen, sowie Angehörigen der städtischen Unterschichten. Er ist zu den Nubiern im äußersten Süden, an der Grenze zum Sudan, gefahren und zu den Beduinen im Nord-Sinai.
Das Schicksal der Nubier
Mit dem nubischen Aktivisten Fawzi Gayer gelangte Asiem el Difraoui in die Siedlungen, in die man die Nubier vor Jahrzehnten zwangsweise ansiedelte. Die Siedlungen liegen mitten in der Wüste - dabei war die Kultur der Nubier über Jahrhunderte stets mit dem Leben am Wasser verbunden gewesen. Fawzi Gayer demonstrierte am Tahrir-Platz für den Sturz Mubaraks. Nach der Revolution war er Mitbegründer der Organisation "Die Einheit der Nubier", die den Forderungen der Nubier mehr Gewicht verleihen will.
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Ideologisch steht Fawzi den Muslimbrüdern in keiner Weise nahe. Islamismus ist für ihn eine Ideologie, die lokale und ethnische Identitäten ebenso wenig anerkennt wie der Panarabismus Nassers. Am schlimmsten seien die Salafisten. Bei ihnen gebe es nur eine islamische Identität, die alle Menschen gleichmachen wolle und dabei weniger vom Islam inspiriert sei als vielmehr von Traditionen aus Zentralarabien.
Dennoch setzten die Nubier zunächst gewisse Hoffnungen in Präsident Mohammed Mursi, schreibt Asiem el Difraoui.
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Sie glaubten, ihre Forderungen durchsetzen zu können, weil das Regime so schwach war, dass es sich keine Großproteste in Oberägypten leisten konnte und gleichzeitig nach neuen Alliierten suchte. Die kaum ein Jahr dauernde Regierung unter Mursi konnte jedoch nicht viel für die Nubier unternehmen. Die damals per Dekret und Referendum durchgepeitschte Verfassung lehnte Fawzi strikt ab - dort würden Minderheiten wie die Nubier mit keinem Wort erwähnt.
Leere Worte für die Bauern
Auch viele ägyptische Bauern mussten in Kürze feststellen, dass Mursis Reden leere Worte waren. Die Art, wie Mursi die Fellachen als Helden beschwor, gab Satirikern reichlich Stoff für ihre Auftritte. Dem Regime gelang es indes nicht, der seit Jahrzehnten maroden Landwirtschaft neue Impulse zu geben. Die Weizenproduktion konnte nicht wie angekündigt gesteigert werden, und andere Sektoren wurden überhaupt vernachlässigt. Für Außenstehende bestätigte sich erneut das Bild der in ewiger Rückständigkeit gefangenen Fellachen.
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Zu viele Mitglieder der ägyptischen Elite teilen, genau wie die westlichen Reiseführer, das Bild von Bauern, deren Leben und Arbeitsmethoden sich seit pharaonischer Zeit kaum geändert haben - Frauen, die Tonkrüge auf dem Kopf tragen, und Männer, die mit der Sichel oder einem anderen antiquierten Instrument ihr Feld bestellen. Die wirklichen Probleme der Fellachen und soziale Missstände, die ganz Ägypten seit Jahrzehnten schaden, werden ignoriert.
Die Katastrophe von Port Said
Die ägyptische Elite stellt selbstverständlich keinen geschlossenen Block dar. Auch innerhalb der Elite, oder besser gesagt, Eliten, gibt es Spannungen, sowohl was die politischen als auch die ökonomischen Interessen betrifft, erklärt Asiem el Difraoui, denn es geben Eliten, die ein modernes Ägypten wollen, und traditionelle, die das verhindern wollen.
In vielen Bereichen ist das Tauziehen unterschiedlicher Kräfte gar nicht genau zu durchschauen. Asiem el Difraoui ist auch nach Port Said gefahren, einer einst bedeutenden Hafenstadt, in der am 1. Februar 2012 bei Ausschreitungen nach einem Fußballspiel 74 Menschen starben und mehr als 1.000 verletzt wurden. Die Katastrophe zog dann Todesurteile für die angeblichen Drahtzieher und weitere Proteste mit weiteren Opfern nach sich. Zu den Verurteilten gehört auch der Sohn des Lehrers Adel Mohamed Shahad, den Asiem el Difraoui in einem Café in Port Said trifft.
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Vermutlich wird es noch Jahre dauern, bis Klarheit darüber herrscht, was bei dem tödlichen Spiel in Port Said tatsächlich geschah, und welche Rolle politischen Interessen dabei spielten. Adel fürchtet, dass die ganze Wahrheit nie ans Licht kommen und seine stolze und ehemals so bedeutende Heimatstadt weiterhin diskriminiert und vernachlässigt werden wird. Nur deshalb, weil alle Regierungen Ägyptens Kairo als das Zentrum ihrer Welt sehen und von dort die Fäden des ganzen Landes in der Hand halten, sich weigern, lokale Demokratie zu fördern, um ganze Städte zu ihren politischen Spielbällen zu machen. Nicht grundlos forderten einige Bürger Port Saids bei den Demonstrationen im Jänner und Februar 2013 provokativ die Unabhängigkeit ihrer Stadt.
Dezentralisierung, gleiche Rechte für alle und Entwicklung - diese Forderungen wurden laut, wo immer Asiem el Difraoui sich umhörte.
Service
Asiem el Difraoui, "Ein neues Ägypten? Reise durch ein Land im Aufruhr", Edition Körber-Stiftung