Das Leben aus der Rollstuhlperspektive
Dachdecker wollte ich eh nicht werden
Wie Menschen, die wegen ihrer körperlichen Bewegungseinschränkung auf einen Rollstuhl angewiesen sind und besondere Bedürfnisse haben, auf ihre Art an der Gesellschaft teilhaben können, das musste Raul Krauthausen erst herausfinden. Das war manchmal schmerzhaft, manchmal humorvoll, aber nie langweilig. Ein Ergebnis ist sein Buch, das er nun im Alter von 33 Jahren veröffentlicht hat.
8. April 2017, 21:58
Raúl Aguayo-Krauthausen beginnt sein Buch mit einem Erfolgserlebnis. Es ist kein enorm großes, doch es wäre für jeden jungen Menschen ein Erfolg, wenn er oder sie durch originelle Ideen und ein bisschen Glück einen der begrenzten Plätze in einem speziellen Berufslehrgang ergattert. Genau das gelang dem Autor mit seinem Team, obwohl er wegen seiner Behinderung zuerst das Gefühl hatte, die anderen aufzuhalten.
Raul Krauthausen wurde mit "Glasknochen" geboren. Medizinisch nennt man das Osteogenesis imperfecta, also unvollständige Knochenbildung – es ist keine Krankheit, sondern ein genetischer Defekt. Die Knochen solcher Menschen brechen schon bei geringfügigen Anlässen, etwa wenn sie sich irgendwo anstoßen oder gar stürzen. Bei Raul Krauthausen führten die zahlreichen Knochenbrüche zur Deformation von Armen und Beinen, aber auch Fingern und Gelenken. Mit einer Körpergröße von ca. einem Meter blieb er auch kleinwüchsig. Er benutzt einen Elektro-Rollstuhl und benötigt zur Bewältigung seines Alltags fast rund um die Uhr Unterstützung.
Keine rosigen Zeiten
All das bedeutet aber nicht, dass er nicht selbstständig wäre. Einfach ist sein Lebensweg dennoch nicht: Er besuchte eine integrative Kindertagesstätte in Berlin und dann eine Grundschule mit besonderer pädagogischer Prägung. Ebenso wie in seiner Familie war er dort voll integriert, schreibt Krauthausen. Aber bei den sportlichen Bundesjugendspielen wird er mit seinem Anderssein konfrontiert:
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Plötzlich in einen Wettbewerb treten zu müssen, der keiner war, zu erkennen, dass es nicht meine Bühne war und anders zu sein, veränderte alles. Ich lehnte meine Behinderung ab. Sie ließ sich nicht leugnen, und ich war derjenige, der sie sein Leben lang haben würde. So entschied ich, sie nicht auch noch zum Thema zu machen, über das ich mit anderen sprach.
In der Schulzeit entwickeln sich gute Freundschaften, aber später im Gymnasium ist für Raul mit seinen Glasknochen nicht alles rosig.
Zitat
"Hey, Raúl, benutzt du zum Waschen eigentlich Glasreiniger?", meinte Peer im Vorbeigehen. Da war sie wieder, meine Behinderung.
Muss Abitur wirklich sein?
Mit 17 moderiert er gemeinsam mit Starmoderator Roger Willemsen im ZDF eine Jubiläumsgala der "Aktion Sorgenkind". Aber trotz solcher Highlights hat das Erwachsenwerden seine Tücken. Wie nicht wenige Jugendliche stellt sich Raul die Frage, warum er denn unbedingt die Matura machen müsse. Er beschreibt ein Gespräch mit seiner Mutter:
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Die ganze Lernerei zahlt sich doch überhaupt nicht aus. Wo ist da der Sinn?"
"Was heißt das für dich?"
Ich zögerte einen Moment mit meiner Antwort. "Mir stellt sich die Frage, ob ich nach der Zehnten nicht abgehe."
Meine Mutter legte ihren Stift beiseite. "Also kein Abitur? Und was hast du dir stattdessen überlegt?"
"Keine Ahnung..."
Sie schaute mich ernst an. "Du musst kein Abitur machen. Aber dir muss klar sein: Dachdecker kannst du auch nicht werden."
Raul Krauthausen schafft das Abitur, wie die Matura in Deutschland heißt. Zwischen ihm und seiner Mutter, mit der er nach der Trennung seiner Eltern lebt, war immer klar, dass er als Erwachsener ohne sie auskommen werde müssen. So sollte es sein, da gab es keine Sentimentalität. Seine Mutter hatte Medizin studiert, was ihr ermöglichte, mit den zahlreichen und extrem schmerzhaften Knochenbrüchen ihres Sohnes professionell und schonend umzugehen.
Körperliche Nähe
Im Alter von knapp 19 Jahren gründet Raul schließlich mit zwei Freunden eine Wohngemeinschaft. Einer von ihnen war als Zivildiener zu seiner Unterstützung eingeteilt. Mit viel Stil und Taktgefühl beschreibt Krauthausen, wie er sich daran gewöhnen musste, andere Menschen als seine Eltern an seinen Körper heran zu lassen, denn er braucht Hilfe bei täglichen Verrichtungen, beim Duschen und Abtrocknen, Aus- und Anziehen und zu Bett gehen. Und da ist noch eine Art von körperlicher Nähe, die für andere in seinem Alter fast selbstverständlich ist, für Raul aber keineswegs. Mit einem Mädchen aus seiner Schule diskutiert er oft und gerne, und als sie einmal beisammen sitzen, lehnen sie sich aneinander:
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"Darf ich dich küssen?", unterbrach ich die Stille, die uns umgab.
Pia hob langsam ihren Kopf von meinem, strich sich das Haar aus dem Gesicht und sah mich nachdenklich an. "Ach Raúl, ich weiß nicht. Ich glaube, ich möchte das nicht", sagte sie.
Erst einmal fühlte ich nichts, in mir war Leere. Dann machten sich große Traurigkeit und Schwere in mir breit. Wie gern hätte ich Pia geküsst, ihre Lippen, ihren Mund berührt, aus dem so viele kluge Sachen sprudelten. Aber es war ja zu erwarten gewesen, dass ich einen Korb bekomme, schoss mir durch den Kopf. Wieso habe ich sie das überhaupt gefragt?
Dass die Freundin erklärt, das habe nichts mit Rauls Behinderung zu tun, macht die Sache nicht besser. Es fällt Raul Krauthausen schwer, das Beziehungskapitel zunächst abzuschließen, aber bald kommen andere Herausforderungen auf ihn zu.
Begegnung auf Augenhöhe
Er studiert Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation und Design Thinking, arbeitet kreativ in der Werbewirtschaft und wird schließlich Programm-Manager bei Radio Fritz, einem Sender des Rundfunks Berlin-Brandenburg. Sein mediales Engagement veranlasst ihn schließlich, 2004 mit engagierten jungen Leuten den gemeinnützigen Verein "Sozialhelden" zu gründen. Für Menschen mit Behinderung möchte er aber weder Bevorzugungen noch besondere Ausnahmen, sondern Akzeptanz. Während er in der Werbebranche inhaltliche Tiefe und Nachhaltigkeit vermisste, sagt ihm die Medienarbeit zu.
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Ich fand, dass ich nicht nur als Mensch mit unterschiedlichen Charakterzügen rüberkam, sondern vor allem selbstbestimmt und selbstbewusst. In Roger Willemsens Sendung war ich nicht anders aufgetreten. Am wichtigsten aber war, dass ich nicht behindert wirkte, obwohl ich es war. Nur weil ein Mensch eine Behinderung hat, muss er sie nicht in den Mittelpunkt stellen. Die Persönlichkeit und nicht der Rollstuhl, in dem jemand sitzt, sollte gesehen werden.
Raul Aguayo-Krauthausen hat sich sehr intensiv mit seiner Behinderung auseinander gesetzt. Gerade deshalb ist ihm Inklusion so wichtig. Er versteht sie nicht als besondere Aufmerksamkeit, sondern als das Angenommen-Werden auf gleicher Augenhöhe. Genauso vermittelt er es auch in seinem Buch, wenn er zum Beispiel eine hitzige Live-Debatte im Radio schildert, die ihm persönlich hilft, sich seiner Behinderung zu stellen, wie er es nennt.
Spannend und flüssig zu lesen ist das – als Perspektive auf unsere Gesellschaft, die so "normal" ist, dass der Alltag manchmal langweilig erscheint. Doch für Menschen wie Raul ist die Teilhabe daran ein beständiges Abenteuer. Überraschungen erlebt er durch eine Liebesbeziehung. Eine sinnerfüllte Tätigkeit schafft er sich durch Projekte wie die "Wheelmap", eine Online-Karte ähnlich wie Google Maps, die Menschen mit Bewegungseinschränkung barrierefreie Orte und benutzbare Strecken zeigt. Projekte wie dieses haben mehrere Preise erhalten – und Raúl Aguayo-Krauthausen ist weiterhin an der Arbeit.
Service
Raúl Aguayo-Krauthausen mit Marion Appelt, "Dachdecker wollte ich eh nicht werden. Das Leben aus der Rollstuhlperspektive", Rowohlt Polaris
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