Roman von Siegfried Kracauer

Georg

Dieser Roman beginnt gleich mit einer Reihe von Irritationen. Zuerst ist es Georg, die titelgebende Hauptfigur, die zuerst einmal nichts weiter ist, als ein Name: Georg.

Die Person, die diesen Namen trägt, ist so blass gezeichnet, dass man sie sich gar nicht richtig vorstellen kann. Wir erfahren nichts über sein Äußeres und wenig über sein Alter. Er ist jung, Mitte zwanzig vermutlich. Ob er studiert oder studiert hat, aus welchen Verhältnissen er kommt – wir erfahren es nicht. Da der Roman im Jahr 1920 einsetzt, also kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, könnte es ja sein, dass Georg einer jener verlorenen jungen Männer ist, denen durch die Fronterfahrung jegliche Bindung an das frühere Leben verloren gegangen ist. Aber auch diesbezüglich gibt der Roman keine Auskunft. Vom Krieg ist überhaupt nicht die Rede, dafür aber sehr viel von den instabilen politischen Verhältnissen und von den ideologischen Grabenkämpfen, die Deutschland nach 1918 zum unberechenbarsten und damit gefährlichsten Land Europas werden ließen.

Der schweigdsame Gast

Als verfügte Georg über einen durchsichtigen Körper, scheinen diese Verhältnisse und Grabenkämpfe durch diesen durch, manchmal verzerrt und verbogen, manchmal grell, manchmal matt – und allmählich geht Siegfried Kracauers Erzählstrategie auf. Dieser Roman besteht vor allem aus Hintergrund, beziehungsweise aus Kulissen. Man sieht Wohnzimmer, in denen sich das aufgeklärte Bürgertum trifft, um etwa über Revolution versus Sozialdemokratie zu diskutieren – und das mit einem lachhaft pathetischen Gestus, als träte man bei einer Seance mit den Toten in Verbindung. Man sieht schlecht belüftete Veranstaltungsräume, in denen Lebensreformer, christlich Gesinnte und Deutschnationale auftreten. Da wird über das Gute im Menschen diskutiert und über Vor- und Nachteile der Demokratie. Vor allem aber wird viel heiße Luft produziert, wird getratscht und intrigiert, während der Lauf der Geschichte ganz woanders gelenkt wird, nämlich dort, wo das Kapital in konzentrierter Form zu finden, aber nicht unbedingt zu sehen ist.

Georg nun, dieser anfängliche Mann ohne Eigenschaften, lässt sich durch den ideologischen Urwald der Nachkriegszeit treiben, hört zu und beobachtet, wird als freundlich schweigsamer Gast gern herumgereicht. Doch die Schule der Salons und Veranstaltungskeller geht nicht spurlos an ihm vorüber. Er macht Erfahrungen, die sich zu Meinungen verdichten. Georg wird vom unsichtbaren Mann zum Zeitgenossen, der vor allem erkennt, dass in all den hitzigen, braven, seriösen oder utopistischen Diskursen das Scheitern ein fester Bestandteil ist. Er erkennt, dass der Wille zur Veränderung nicht reicht, dass nur mit dem Willen zur Macht eine ganze Gesellschaft in eine Richtung gedrängt werden kann.

Bei jenen Menschen, die sich zur geistigen Elite zählen, ist dieser Wille aber nicht vorhanden, da war man bereits in den 1920er Jahren politisch korrekt und schloss den Weg der Gewalt aus. Deshalb, erkennt Georg, bleibt das Gerede nur Gerede, ein Beruhigungsmittel für die Machtlosen.

Partikel der Gesellschaft

"Georg", schrieb Siegfried Kracauer über seinen Roman, "ist eine Art Parzival. Seine entscheidenden Züge sind eine große Naivität und eine unbedingte Aufrichtigkeit. Mit diesen Eigenschaften des reinen Toren mischt sich eine ausgeprägte Empfindlichkeiten menschlichen Unzulänglichkeiten gegenüber".

Georg ist also so etwas wie ein objektives Messinstrument, das von Kracauer in die Tiefe der Nachkriegsgesellschaft hinabgelassen wird, um den Nährstoffgehalt für eine zukünftige Regeneration zu messen. Der Befund ist deprimierend. Kracauer gelingt es aber im Lauf seines Romans, Georg selbst menschlicher zu gestalten und aus ihm, dem anfangs reinen Toren, dem kalten Messinstrument, ein Partikel dieser Gesellschaft zu machen, das mit seinen Erkenntnissen allerdings nicht viel anzufangen weiß.

Korrumpierte Medien

Georg wird Redakteur bei einer Tageszeitung und begreift rasch, dass Medien, so liberal sie ausgerichtet sein mögen, nur dann in einem wirtschaftlichen und politischen Kontext bestehen können, wenn sie ideologisch anpassungsfähig sind und wenn die Eigentümer und Herausgeber mit den Eliten paktieren. Man könnte auch sagen: wenn sie korrupt sind.

Georg schreibt seine Artikel über diverse politische Veranstaltungen, als gehe es im Journalismus um Aufrichtigkeit, um Objektivität, um die Wahrheit hinter den Phrasen. Doch dort, wo die Phrasen produziert werden, um Taten zu verschleiern, in den Vorstandsbüros der Industrie und der Banken sowie in den Parteizentralen hat man für derlei Romantik wenig übrig und es kommt, wie es kommen muss, Georg wird gekündigt, wobei Kracauer, der als Soziologe mit seiner Studie über die Angestellten im Jahr 1930 für Aufsehen sorgte, eine auch für heutige Verhältnisse gültige Analyse der Machtverteilung von oben nach unten erstellt. Jeder Einzelne in der Hierarchie des Systems hat seine Partikularinteressen, die sich an einem Punkt mit den Interessen der Elite berühren. Wenn Georg also mit seinem Hang zur Aufrichtigkeit die wirtschaftliche Grundlage der Zeitung in einem korrupten System zu zerstören droht, gefährdet er Karrieren und Arbeitsplätze. Damit bringt er sämtliche Kollegen gegen sich auf, er ist isoliert und kann auf keinerlei Rückhalt hoffen.

An der eigenen Biografie angelehnt

Wie bereits in seinem ersten Roman "Ginster" aus dem Jahr 1928, der kurz vor und während des Ersten Weltkriegs spielt, schreibt Kracauer auch in "Georg" eng an der eigenen Biografie entlang. Frankfurt am Main, seine Heimatstadt, war in den 1920er Jahren neben Berlin das zweite Zentrum des intellektuellen Lebens in Deutschland. Die Impulse, die vom Institut für Sozialforschung ausgingen, dem Kracauer nahe stand, fließen ebenso in den Roman ein, wie die Erfahrungen seiner ersten Jahre als Redakteur bei der "Frankfurter Zeitung". Auch das homoerotische Verhältnis Georgs zum Abiturienten Fred hat seine Entsprechung in der Wirklichkeit: Der Redakteur Kracauer unterhielt Anfang der 1920er Jahre eine Beziehung zum Abiturienten Theodor Adorno. Auch die Entfremdung zwischen beiden wird am Ende des Romans thematisiert, wo Georg nicht nur seinen Posten bei der Zeitung und seinen Glauben an einen funktionierenden Staat, sondern auch einen Freund, den einzigen vielleicht, verliert. Am Ende heult in einem zeittypisch expressiven Sprachbild der Sturm über den Kurfürstendamm in Berlin, eine Metapher für das raue Klima, das wenige Monate nach Erscheinen des Romans zur politischen Realität werden sollte.

Obwohl vieles darauf hindeutet, ist "Georg" kein Schlüsselroman. Ein paar konkrete Namen fallen zwar, diese dienen aber nur der zeitlichen und politischen Verortung des beschriebenen Milieus. Die Personenzeichnung ist bei Kracauer durchgehend blass gehalten, vielmehr kommt es ihm darauf an, Diskurse, Haltungen und Meinungen einer bestimmten, für das weitere Schicksal Deutschlands und seiner Bürger entscheidenden Zeit möglichst genau abzubilden. "Georg" ist gemeinsam mit dem Vorgängerroman "Ginster" der Versuch, mit literarischen Mitteln eine relativ kurze Phase der Geschichte, 15 Jahre etwa, zu beschreiben, die eine Gesellschaft und ihre Individuen so überfordert hat, wie keine Phase davor.

Vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs bis zur Machtergreifung Hitlers, innerhalb einer Generation also, taten sich Möglichkeiten der politischen und gesellschaftlichen Organisation, des technischen Fortschritts, der Rationalisierung, der Kontrolle und des kollektiven Tötens auf, die in dieser verdichteten Form sämtliche Erfahrungen der Menschen sprengten. Man kann den Lauf der Dinge erkennen, wie Georg es tut, man kann ihn als Individuum allerdings nicht aufhalten. Es ist die Zeit, in der sich die Ohnmächtigen und Ratlosen zur Masse verdichten, die Schutz suchen in der Entindividualisierung - und sich so den massentauglichen Ordnungskräften ausliefern: dem Kapitalismus und dem Nationalsozialismus.

Service

Siegfried Kracauer: "Georg", Suhrkamp Verlag