Bibelkommentar zu Jesaja 58, 1 - 9a

Vor dem Beginn der Fastenzeit erinnert dieser Text aus dem dritten Jesaja-Buch an drei Dimensionen des Fastens: die religiöse, die persönliche und die gesellschaftliche.

Fasten ist in Jerusalem im 6. oder 5. Jahrhundert vor Christus vor allem ein religiöser Vorgang, der mit Ritualen und kultischen Handlungen verbunden ist. Im Hintergrund des Textes steht eine konkrete Fastenpraxis: Gefastet wird zu bestimmten Festen, Zeiten und Anlässen, wie zum Beispiel bei der Totenklage oder an Jom Kippur, dem Versöhnungstag. Bis heute wird dieser Text im Judentum am Jom Kippur als Haftara, als Prophetenlesung, in der Synagoge gelesen. Sinn des Fastens ist die Versöhnung und Nähe zwischen Gott und den Menschen. „Sie begehren, dass Gott sich nahe“, heißt es in der Luther-Übersetzung: Sinn des Fastens ist das Begehren, die Lust, der Wunsch, Gott nahe zu sein und die Hoffnung, dass Gott sich nähert. Fasten ist also ein Weg zur Gottesnähe.

Dieser Wunsch nach Gottesnähe und vorgegebene Anlässe motivieren den oder die Einzelne, zu bestimmten Zeiten zu fasten. Die persönliche Dimension des Fastens ist eng mit den religiösen und sozialen Bezügen verknüpft. Fasten ist der freiwillige und zeitlich begrenzte Verzicht auf Nahrung, zum Teil auch Trinken, eine Einschränkung alltäglicher Gewohnheiten. Im biblischen Israel ist es mit konkreten, sichtbaren Ritualen verbunden: Wer fastet, lässt den Kopf wie einen Schilfhalm hängen und kleidet sich in Sack und Asche. Eine hebräische Umschreibung für das Fasten ist ʽinnāh næfæš: „den Leib kasteien“ (so Luther), „den Körper beugen“ oder „die Seele bedrücken“, „sich quälen“ oder „sich demütigen.“ Die næfæš, die „Seele“, hat ihren körperlichen Ort in der „Kehle“, die Luft und Nahrung braucht und sich nach Zuwendung sehnt. Sie bezeichnet die Lebenskraft, die Vitalität oder auch den ganzen Menschen in einer Einheit aus Körper, Geist und Seele. Fasten schränkt die Vitalität des Menschen ein. Fasten macht schwach, aber es macht gleichzeitig auch stark, indem es den Blick auf das Wesentliche lenkt: auf Gott und die Menschen neben mir.

Dieser Text aus dem dritten Jesaja-Buch sagt mir: Es geht nicht nur um mich und darum, ob ich es schaffe, in der Passionszeit auf Schokolade und Wein zu verzichten. Fasten hat auch gesellschaftliche Konsequenzen. Als das wahre Fasten wird in diesem Text ein soziales Verhalten gegenüber den Mitmenschen, vor allem den benachteiligten, beschrieben. Hier werden die Aussagen ganz konkret und klar:

- „Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast!“ „Gibt frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg!“ – Setz dich gegen alle Formen von Unterdrückung ein!
- „Brich dem Hungrigen dein Brot!“ – Teile dein Essen! – Das ist eine ganz konkrete, einfache Fasten-Anleitung.
- „Die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus!“ – Gib Obdachlosen eine Unterkunft! Kümmere dich darum, dass Menschen ohne festen Wohnsitz ein Dach über dem Kopf haben!
- „Wenn du jemanden nackt siehst, dann kleide ihn!“ – Sorge dafür, dass alle genug zum Anziehen haben!

Es ist erstaunlich, wie aktuell dieser mehr als 2500 Jahre alte Text ist: Auf der Internetseite der österreichischen Tafeln, die sich für die Verteilung von nicht verwendeten Lebensmitteln einsetzen, steht: „gemeinsam gegen Armut, Hunger und Lebensmittel-Verschwendung!“

Wenn der Mensch nicht nur an sich selbst denkt, sondern auch an seine Mitmenschen, dann führt das in den biblischen Worten dazu, dass „die Seele satt wird.“ Es ist genug für alle da. Ein Fasten, das die Fürsorge für die Bedürftigen mit einschließt, steht im Jesaja-Text unter der Zusage einer umfassenden Heilung:

„Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte,
und deine Wunde wird schnell zuwachsen.
Deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen,
und der Glanz Gottes wird dich einsammeln.“