Was vor "Trainspotting" geschah

Skagboys

Vereinfachend könnte man sagen, dass es zwei Arten von Irvine-Welsh-Romanen gibt. Die, in denen er über das Leben von Junkies in Edinburgh schreibt, und die, in denen er über etwas anderes schreibt. Und ebenso vereinfachend könnte man sagen, dass erstere Romane stets gut bis sehr gut sind. Und zweitere stets schlecht bis sehr schlecht.

Man denke nur an "Die Bettgeschichten der Meisterköche". Da versuchte Welsh in die Welt der Gourmetköche und deren seelischen Abgründe einzutauchen. 2006 in England erschienen, ist dieses Buch das mit Abstand schlechteste, das Welsh je verfasst hat.

Drogen, Fußball, Frauen

Nun ist er mit seinem neuen Roman wieder dorthin zurückgekehrt, wo alles begonnen hat. Nach Leith, in jenen Stadtteil Edinburghs, den er mit seinem Debütroman "Trainspotting" auf die literarische Bühne gehoben hat. 1993 publiziert, ist Welshs Erstling sein bis heute bekanntestes Buch; was vor allem an der Verfilmung liegt.

2002 hatte Welsh in "Porno" erzählt, was mit den Protagonisten seines Erstlingswerkes zehn Jahre später passierte, und nun erfahren wir in "Skagboys", wie alles begann - wobei man anmerken muss, dass es überhaupt keine Rolle spielt, ob die Junkies, wie im vorliegenden Fall, auf die Namen Sick Boy, Spud oder Second Prize hören. Sie könnten genauso gut Terry Lawson oder Carl Ewart heißen, so wie die Figuren des 2001 erschienen Romans "Klebstoff", denn hier wie dort geht es immer nur um drei Dinge: Drogen, Fußball, Frauen. Wobei der Schwerpunkt bei "Skagboys" – das sagt schon der Titel – auf Drogen liegt. Besser gesagt auf Skag. Für alle die mit dem Junkie Slang nicht so vertraut sind: Dabei handelt es sich um Heroin.

Das Buch beginnt mit einem Ereignis, das tiefe Spuren im Bewusstsein der britischen Arbeiterklasse hinterlassen hat. Dem "Battle of Orgreave". Am 18. Juni 1984 standen 5.000 streikende Bergarbeiter in der Nähe von Sheffield 8.000 Polizisten gegenüber. Es kam zu bürgerkriegsähnlichen Tumulten. Dass Welsh sein Buch mit diesem Kampf beginnen lässt, ist schlüssig. Denn der Miner's Strike, den Margaret Thatcher mit unerbittlicher Härte führte, markiert das Ende der britischen Arbeiterklasse.

Nachdem es Thatcher gelungen war, die Gewerkschaften zu brechen, wurde jene Trennung, die in Großbritannien schon seit jeher besteht – hier der reiche Süden mit dem alles überstrahlenden London als Zentrum, dort der arme Norden - zementiert. Der Süden florierte, der Norden ging vor die Hunde. Das ist das historische Setting, in dem Welshs Figuren versuchen, ihr Leben zu leben.

Alle Stationen den Heroinkonsums

Jobs gibt es so gut wie keine mehr; das einzige was sie noch tun können ist, die Sozialhilfe abholen. Und die alles zerfressende Langeweile mit Heroin bekämpfen. Aber Welsh wäre nicht Welsh wenn er den Umständen die Schuld an der Drogensucht seiner Protagonisten gäbe. Er weiß - und all die Skagboys und Skaggirls wissen es ebenso -: So gut könnten die Zeiten gar nicht sein, dass sie nicht nach Heroin gieren würden.

Welsh erzählt seinen Roman aus der Ich-Erzähler-Perspektive mehrerer Personen. Wer genau in welchem Kapitel spricht, das wird nicht immer ganz klar - was in diesem Fall aber kein Problem darstellt, denn so entsteht beim Leser das Gefühl, einen Diskurs zu belauschen, bei dem der Chor der Süchtigen nur einen einzigen Satz kennt: Wie kommen wir zum nächsten Schuss?

Es gibt ein Problem, das alle Drogenromanen eint: Sie haben alle dasselbe Handlungsgerüst. Zuerst ein traumatisches Erlebnis, dann die Flucht in die Drogen. Der unerhörte Glückszustand des ersten Fix. Die Überzeugung, nicht abhängig zu sein, sondern Heroin nur zur Freizeitgestaltung zu verwenden. Dann die kriminellen Handlungen, um zu Geld zu kommen. Die Schmerzen des Cold Turkey. Und schließlich der Entzug. Welsh dekliniert alle diese klassischen Stationen des Heroinkonsums durch. Und er tut es meisterhaft. Natürlich weiß man gleich zu Beginn, dass das 16-jährige hübsche Mädchen, dessen Vater eben ermordet wurde und dessen Mutter wegen Sozialbetrug ins Gefängnis muss, sich den ersten Schuss setzen und ein paar Seiten später auf den Strich gehen wird. Aber Welshs Kunst besteht darin, all diese Episoden so zu schildern, als gäbe es einen Ausweg, als könnte die Geschichte anders verlaufen, als wäre da eine Öffnung in eine andere Realität.

Einprägende Szenen

Es gibt in diesem Text viele Szenen, die sich einprägen: Wenn die Junkies in einer heruntergekommenen Wohnung sitzen und sich die Nadel teilen, noch immer glaubend, Aids würde nur Schwule betreffen. Und Welsh dann in seinen journalistisch gehaltenen "Anmerkungen zu einer Epidemie" vermerkt, dass Edinburgh in den 1980er Jahren von der Presse als "Aids-Hauptstadt" Europas tituliert wurde, weil der Spritzentausch verboten wurde und die Süchtigen sich deshalb ihr Injektionsbesteck teilten. Oder wenn Mark Renton, der als erster seiner Familie die Universität besucht und eine kluge, hübsche Freundin hat, eben diese verlässt, um in Ruhe seinem Heroinkonsum zu frönen.

"Skagboys" umfasst in der deutschen Übersetzung mehr als 800 Seiten. Natürlich könnte man einwenden, dass das Buch gewonnen hätte, wenn das Lektorat den Text gestrafft hätte. Aber das kann man von fast jedem Roman sagen. Ja, die Handlung ist ein wenig redundant, und das permanente Sprechen über Drogen und Frauen mitunter enervierend. Aber wer das nicht will, der oder die liest Irvine Welsh ohnehin nicht.

Service

Irvine Welsh, "Skagboys", ins Deutsche übertragen von Daniel Müller, Heyne Hardcore