Die "Café Sonntag"-Glosse von Doron Rabinovici

Jüdisches Wien - Eine Zeit im Bild

Nicht wenige, die vor hundert Jahren vom "jüdischen Wien" raunten, meinten damit nicht unbedingt die Juden, die hierzulande verschämt mosaisch genannt werden.

Wien selbst galt vielen als das Jüdische, als das, wie es hieß, Verjudete schlechthin. Das Urbane an sich stand im Verdacht, der Hort der vaterlandslosen Gesellen zu sein, als wären sie in Wien nicht immerzu bloß die Außenseiter und die Anderen, die Andersartigen gewesen.

1420 schon waren sie hier verjagt oder ermordet worden. Danach wurden nur Einzelne in der Stadt geduldet, bis sie 1620 ins Ghetto außerhalb der Mauern abwandern mußten, um bereits fünfzig Jahre später auch von dort vertrieben zu werden. Noch im 18. Jahrhundert zwang Karl VI. sie, Kennzeichen zu tragen. Unter Maria Theresia war ihnen nicht erlaubt, sich den Bart schneiden zu lassen und im Zolltarif rangierten sie hinter dem Vieh. Wenn die Kaiserin ihre jüdischen Hoffaktoren empfing, verschanzte sie sich hinter einem Paravent. Selbst das Toleranzedikt, erlassen unter Josef II., galt nur für die "tolerierten Juden", die indes weiterhin Sondersteuern unterlagen und etwa keine Häuser erwerben durften.

Erst 1867 erhielten sie die rechtliche Gleichstellung, und dieses Vorzeichen einer Emanzipation ließ die Juden erst, allen sozialen Diskriminierungen zum Trotz, in die Donaumetropole strömen. Die Residenz der Habsburgerdynastie wurde zur deutschsprachigen Stadt mit dem größten jüdischen Bevölkerungsanteil und zur Geburtsstätte des populistischen Antisemitismus' zugleich. Die Massenbewegung des Judenhasses feierte in Wien ihre Weltpremiere. Das Ressentiment wurde zum politischen Erfolgsprinzip.

Müsste ich indes von allen weltberühmten Geistesgrößen jüdischer Herkunft - Künstler, Wissenschaftler, Denker, Schriftsteller - erzählen, die hier um 1900 lebten, mir würde die Zeit, die mir für diese Glosse zugeteilt wurde, nicht reichen. Dieses Jüdische Wien existierte bloß vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum sogenannten Anschluss, wurde jedoch zu einer Wiege der Moderne und zu einem Zentrum von Kreativität. Die Wiener Kultusgemeinde umfasste vor 1938 ungefähr 440 Vereine und 23 Synagogen. Es existierten eine Jüdische Völkerbundliga, ein Verein Jüdischer Tierfreunde, ein Österreichischer Fachverband der Israelitischen Fleischhauer und Fleischhändler, ein Legitimistischer Jüdischer Frauenbund und der Verein palästinensischer Studenten, womit damals noch Juden aus jenem Land im Nahen Osten gemeint waren.

Dieses jüdische Wien, es wurde ausgerottet. Es existiert nicht mehr - und es wird nie wieder existieren. Am 5. Februar 1943 erschien in Wien eine Ausgabe des "Jüdischen Nachrichtenblattes". Das Zirkular erreichte bloß wenige, die noch nicht deportiert waren. Die Schlagzeile lautete: "Woher stammten die Juden Wiens?" Der Satz war im Imperfekt – und in dieser Mitvergangenheit leben wir seither.

Das jüdische Wien, einst verfemt, ist längst zum Renommee und zur Attraktion geworden, und seine Faszination ist so allgemein, daß einer beinahe sagen könnte, die jüdische Kultur sei nun fest in nichtjüdischer Hand. Aber es gibt sie, die Juden von heute. Sie sind kaum Nachkommen jener, die einst hier verfolgt wurden. Sie sind ein neues Jüdisches Wien, das selbstbewusster auftritt als je zuvor. Es versteckt sich nicht. Da ist sein Straßenfest, sein Kantorenkonzert, doch auch das Jüdische Museum, und überall wird offenbar, wie bunt es ist und wie lebendig, denn es gibt und es gab nie nur das eine Jüdische Wien, sondern immerzu deren mehrere, und gemeinsam bezeugen sie, wie falsch jene liegen, die nur das Einerlei wollen und gegen alles Fremde hetzen. Gemeinsam zeigen sie uns, warum jede einzelne Kultur letztlich von Anfang an auf Vielseitigkeit und auf Mehrstimmigkeit beruht.