Ragnar Kjartansson und das begehbare Filmset

Der 37-jährige isländische Künstler Ragnar Kjartansson gehört zu den vielversprechendsten Performance- und Videokünstlern der jüngeren Generation. 2009 hat er Island bei der Biennale in Venedig vertreten.

Vor einem Jahr begeisterte Kjartansson mit seiner Videokomposition "The Visitor" Kritiker in New York, Zürich und Wien. Denn zu sehen war "The Visitor" nicht nur im Zürcher Migros Museum, sondern auch im Augartenatelier in Wien, dem Ausstellungsraum von Francesca Habsburgs Kunststiftung Thyssen Bornemisza Art Contemporary, kurz TBA 21. Ein Jahr später hat die TBA 21 den exzentrischen Isländer ein weiteres Mal eingeladen. Einen Monat lang wird Kjartansson im Augartenatelier in Wien performen. Mit im Gepäck hat er 22 isländische Künstlerkollegen und- kolleginnen sowie jede Menge verrückte Ideen.

Lokalaugenschein in den lichtdurchfluteten Hallen des Augartenateliers: An der Wand lehnt ein riesiger gemalter Theaterhimmel, da und dort sieht man Teile, die zu einer einfachen Behausung zusammengezimmert werden sollen. Es wird gebohrt, gehämmert und gesägt. 22 Künstler und Künstlerinnen aus Island sind am Werk. Sie bauen eine kleine Filmstadt. Die Kulisse für einen Film, den der isländische Performance- und Multimediakünstler Ragnar Kjartanssan im Augartenatelier drehen wird. Ragnar Kjartansson, rotblondes Haar, Bart, mittelgroß, mit rötlichem Teint und einladendem Lächeln versprüht positive Energie. Von den unterkühlten Posen des Kunstparketts hält Kjartansson offenbar nichts, in Stilfragen liebt er es dennoch formell: Selbst auf der Baustelle bleibt Kjartansson seinem erlesenen Geschmack treu. Denn ja, der Nadelstreifanzug ist seine Arbeitskluft. "Ich will auch beim Malen und Streichen einen Anzug tragen. Ich trage einfach gerne Anzüge.", sagt der Künstler.

Der Dandy aus dem Norden

Ragnar Kjartansson, diese Mischung aus exzentrischem Dandy und bärtigem Nordmann kann man ohnehin nicht übersehen. Bei der letzten Kunst-Biennale wandelte Kjartansson im grellpinken Zweiteiler, durch das Arsenale – flankiert von einer nicht minder auffälligen Entourage. Doch trotz Hang zum großen Auftritt ist Ragnar Kjartansson ein hemdärmeliger Typ. Auch beim Bau der Filmkulissen packt er selbst mit an. Noch sieht es im Augartenatelier etwas chaotisch aus. Doch im Laufe des Monats soll hier ein Film entstehen. Die Besonderheit: Interessierte können jederzeit vorbeikommen und zuschauen.

Kjartansson und seine Freunde bauen sozusagen ein begehbares Filmset. Eine Kunstfabrik, die für das einfache Fußvolk, oder zumindest für Kunstaficionados zugänglich sein wird. Gedreht wird den ganzen April. "Es ist eine Performance, die den ganzen April hier stattfinden wird. Als Besucher kann man dabei zusehen, wie wir Filmkulissen bauen und Kostüme nähen. Man sieht uns beim Musikspielen und beim Komponieren. Und natürlich kann man uns auch beim Drehen selbst über die Schultern schauen. Niemand von uns hier im Team ist ein Schauspieler, aber wir werden uns dieser epischen Erzählung, die sich mit der Schönheit auseinandersetzt, filmisch und performativ nähern."

Ragnar Kjartansson hat sich viel vorgenommen. Denn im Augartenatelier soll der zweite Teil von Halldór Laxness isländischer Saga "Weltlicht" verfilmt werden. Zwischen 1937 und 1940 veröffentlichte Laxness, der 1955 als erster Isländer den Literaturnobelpreis erhielt, die Romantetralogie "Weltlicht". Ein Künstlerepos, das die Geschichte des fiktiven Volksdichters Olafur Karason erzählt

"Halldór Laxness war selbst ein Sozialist. Er setzt sich in seiner Saga 'Weltlicht' mit der Frage auseinander, ob der Künstler sich darauf konzentrieren soll, die Welt zu verändern, oder ob er sich auf die Schönheit des Himmels konzentrieren soll. Die Hauptfigur des Buches ist ein geborener Künstler. Er will die Schönheit der Natur beschreiben und isoliert sich selbst von seiner Umwelt. Das Buch ist einerseits ein ironischer Kommentar auf das Klischee des romantischen Kunstgenies, andererseits werden diese Klischees auch zelebriert. Halldór Laxness war ein politisch denkender Mensch und er hat sich in seinem Opus magnum mit der Rolle der Kunst auseinandergesetzt."

Das begehbare Filmset

Der von sozialistischen Idealen begeisterte Halldór Laxness porträtiert den Künstler als Zerrissenen, der sich zwischen politischem Engagement und der Hingabe an die absolute Schönheit entscheiden muss. Wie die Romanvorlage stellt Ragnar Kjartansson gewichtige Fragen, die, so scheint es, schon lange aus der Mode gekommen sind. Kann die Kunst die Ahnung von einer möglichen, besseren Welt einfangen? Der Roman erzähle von einer "größenwahnsinnigen Gralssuche" sagt Ragnar Kjartansson. Ein Befund, der durchaus auch auf sein Film- und Performanceprojekt im Wiener Augartenatelier zutrifft:

"Ich habe persönlich ein ähnliches Problem wie der Dichter Olafur Karason in Halldor Laxness Saga. Ich bin ein politisch interessierter Mensch, aber in meiner Arbeit geht es letztlich immer um Gefühle und um Schönheit. Ich glaube, das ist ein Dilemma, das viele Künstler kennen. Ist man ein Vertreter einer dezidiert politischen Kunst, oder steht man für L´ art pour l´art."

Ragnar Kjartansson, der sich also als politischen Zeitgenossen beschreibt, hat die turbulenten politischen Entwicklungen in seinem Heimatland Island in den letzten Jahren genau mitverfolgt. Zur Erinnerung: Unmittelbar nach der Finanzkrise, die Island besonders hart getroffen hat und 2008 zum bankrott des Inselstaates führte, dankten die alt eingesessene Politkader ab. Auf der politischen Bühne erschien eine neue Spaßpartei, die sich selbstironisch "Die Beste" nannte und seit 2010 mit Jón Gnarr den Bürgermeister der isländischen Hauptstadt Reykjavik stellt. Künstler, Komiker und Schauspieler sind mit ihm ins Rathaus von Europas nördlichster Hauptstadt eingezogen.

Eine Option für Ragnar Kjartansson? "Der Kollaps in Island hatte auch etwas Gutes. Plötzlich hatte man die Hoffnung, dass sich etwas verändern wird. Alle haben gesagt: "Wir haben diesen furchtbaren Fehler gemacht, jetzt müssen wir den Weg für eine bessere Gesellschaft ebnen." Zur selben Zeit entstand auch Occupy Wallstreet. Auf der ganzen Welt war für einen kurzen Moment Aufbruchsstimmung zu spüren. Die Partei "Die Beste" war ein Teil dieser Aufbruchsstimmung. Aber Jon Gnarr wird diesen Frühling zurücktreten, obwohl er der beliebteste Bürgermeister Reijkaviks ist, den es je gab. Aber Gnarr will sich von der Macht fernhalten. Der Bankrott war für Island nicht so schlimm. Island hatte trotz allem ein gutes soziales Auffangnetz, aber jetzt nach dieser kurzen Aufbruchsstimmung kommen die konservativen und nationalistischen Kräfte zurück."

Kunst als Prozess

Die politische Großwetterlage Islands macht Ragnar Kjartansson Sorgen. In die Politik will er so schnell trotzdem nicht gehen. Vorerst widmet er sich seinem neuesten künstlerischen Projekt, der Verfilmung von Halldór Laxness Romantetralogie "Weltlicht". "Ich mag die Energie, wenn Menschen etwas schaffen. Wenn sie zum Beispiel einen Film machen, oder eine Theaterproduktion vorbereitet. Sobald das Produkt fertig ist, die Produktion fertig ist, ist diese Energie weg. Bei meiner Arbeit hier geht es eigentlich um den Prozess, die Arbeit am Film, es geht nicht darum, ob am Ende ein Film herauskommt. Eigentlich ist das Vorhaben, diesen Film zu drehen ohnehin ein hoffnungsloses Unterfangen."

Der Weg ist das Ziel. Ragnar Kjartansson geht es nicht darum, Kunstobjekte zu schaffen, er interessiert sich dafür, was passiert, während man sie herstellt. Langzeitperformances sind ohnehin Kjartansson Markenzeichen, oder vielmehr seine Leidenschaft. 2009 hat Kjartansson sein Heimatland Island bei der Biennale in Venedig vertreten. Für die Laufzeit der Ausstellung bezog Kjartansson Quartier in einem mondänen, wenn auch etwas heruntergekommenen Palazzo am Canal Grande. Sämtliche bekannte Künstlerklischee wurden im Laufe seiner monatelangen Performance lustvoll durchdekliniert: Saufgelage und Exzesse wurden da auf Leinwand gebannt, denn jeden Tag malte Kjartansson ein Ölgemälde – mit stilistisch äußerst bescheidenen Mitteln versteht sich. Die eher unansehnliche Gemäldesammlung, die in Venedig entstanden ist, war letztes Jahr auch in der Kunsthalle Krems als Teil der Ausstellung "Große Gefühle" zu sehen. Große Gefühle sind ohnehin Kjartanssons Thema.

Große Gefühle

Doch soll man das alles wirklich ernst nehmen? Diese romantische Melancholie, diesen vor Pathos triefenden Weltschmerz? Diese naive Affirmation des Schönen und Innerlichen? Wenn man über Ragnar Kjartansson spricht, ist der Kitschverdacht nicht weit. "Ich bin am Theater aufgewachsen, deshalb interessiere ich mich für große Gefühle. Meine Arbeit dreht sich im Wesentlichen um eine Frage: Wie kann ich die ganz großen Gefühle in eine Skulptur verwandeln?", sagt der Künstler.

Ist Kjartansson der Barde einer neuen Kunst, die sich von der verkopften Schlagseite der Moderne befreit hat? Vorerst widmet sich der Gralsritter im Nadelstreif aber seinem aktuellen Projekt: Auf den Spuren des isländischen Autors Hallór Laxness soll bis Ende April ein Film entstehen. Ob dieser Film jemals das Licht der Öffentlichkeit erblicken wird, bleibt zu bezweifeln. Doch wer 23 isländischen Kunstidealisten bei der Arbeit über die Schulter schauen will, dem sei ein Besuch im Wiener Augartenatelier dringend empfohlen.

Service

TBA 21