Reportagen über ein Land im Aufbruch
Brasilien brennt
In etwas mehr als einem Monat beginnt in Brasilien die Fußball-Weltmeisterschaft. Das Land erwartet rund 600.000 ausländische Fans, Sicherheit wird großgeschrieben. Doch "Brasilien brennt" – und zwar nicht nur im Titel des Buches von Adrian Geiges, sondern tatsächlich.
26. April 2017, 15:44
Adrian Geiges ist immer unterwegs. Er war viele Jahre in China und in Russland. Er will das Land, aus dem er berichtet, kennenlernen und das heißt für ihn, er muss dort leben. Anfang 2013 verlässt er das verschneite Deutschland und fliegt nach Brasilien. Leben wird er in Rio de Janeiro. Vorrangiges Problem: er braucht eine Wohnung. Und das ist im Vorfeld der WM gar nicht so einfach.
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Die Besitzerin der Wohnung heißt Daniela und schreibt mich auf Facebook auch direkt an. (...) Im Preis geht sie plötzlich von umgerechnet 940 Euro Monatsmiete auf 423 Euro im Monat herunter, also nicht einmal mehr die Hälfte des Ursprungspreises - hinzu kommen allerdings 85 Euro Nebenkosten für die Wohnanlage. "Viel teurer wird es aber im Juni und Juli 2014 wegen der Fußballweltmeisterschaft", ergänzt sie dann. Wie teuer? 8.000 US-Dollar pro Monat. Bleibt mir nur noch die Antwort: "Tut mir leid, so reich bin ich nicht."
Schließlich findet Adrian Geiges eine Wohnung, in einer Favela, also einem Armenviertel. In einer jener Favelas, in der die UPP, die Unidade da Polícia Pacificadora, die Befriedungspolizei, das Kommando übernommen hat. Dort können Kinder wieder auf der Straße spielen und müssen nicht befürchten, Opfer von Querschlägern zu werden.
Um das Thema Gewalt geht es im Buch immer wieder: Allein im Jahr 2012 kamen in Brasilien 53.800 Menschen bei Verbrechen ums Leben, die meisten in Kämpfen zwischen verfeindeten Drogengangs. Der Autor begleitet einen Mann, der ein Projekt gestartet hat, das es Kindersoldaten in den Favelas ermöglichen soll, wieder ein normales Leben zu leben, einer normalen Arbeit nachzugehen, auszusteigen aus dem Drogen-Wahnsinn. Einer von ihnen ist Hugo:
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Den meisten fällt es schwer, über ihre Vergangenheit zu reden. (...) Hugo hingegen erzählt offen über sein Leben: "(...) In den Jahren, in denen ich dabei war, sind mehr als hundert meiner Freunde getötet worden. Manche verbluteten in meinen Armen. Von den damaligen Freunden sind nur noch zwei am Leben, aber sie sitzen im Gefängnis. Mich selbst trafen vier Schüsse, einer in den Rücken, einer ins Bein, zwei in die Schultern."
Das erste Drittel des Buches bestätigt den Europäer in seiner Meinung über Brasilien. Ein wunderschönes Land mit gravierenden Problemen: Armut, Drogen, Rassismus. Doch dem Autor gelingt eine Gratwanderung: so schlimm die Zustände auch sind, die Brasilianer nehmen das Leben gelassen, für alles und jedes gibt es eine Lösung, und mit einem Lächeln kommt man viel weiter als mit europäischer Verbissenheit.
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Zwar rege ich mich darüber auf, wenn Deutsche, die hier leben, Brasilianer als "faul" bezeichnen. Ich sehe in meiner Favela jeden Tag, wie Leute gleich in mehreren Jobs hintereinander arbeiten, während die meisten Deutschen sechs Wochen Urlaub genießen und manche sogar die 35-Stunden-Woche. (...) Brasilianer wollen a boa vida, das "gute Leben", heute, jetzt, in diesem Moment - und lassen dafür auch einmal einen Termin sausen oder kommen zwei Stunden zu spät.
Schluss mit Lustig ist allerdings beim Thema Fußball. Ja, Brasilien ist fußball-närrisch. Brasilien weint, wenn die Nationalmannschaft verliert und kein Land der Welt feiert den Sieg so wie Brasilien. Die bevorstehende Weltmeisterschaft hat allerdings etwas zum Vorschein gebracht, das es vorher nicht gab: Widerstand. Gegen die FIFA, gegen die Regierung, gegen die explodierenden Kosten. Etwa in Manaus, der nördlichsten WM-Stadt, im Amazonasgebiet.
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Nicht alle hier teilen die Begeisterung der Regierung, in diesem Naturparadies ein riesiges Stadion zu erbauen. Denn dafür wurden umgerechnet 200 Millionen Euro aus Steuergeld ausgegeben – zu viel für ganze vier Vorrundenspiele, finden manche. Denn Manaus´ Vereine kicken maximal in der dritten Liga. Für große Spiele wird das Stadion nach der WM kaum genutzt – allenfalls für Konzerte, was die Regierung immer wieder hervorhebt. Kritiker würden sich solche Summen lieber für andere Projekte wünschen, für Naturschutz oder Bildung.
Adrian Geiges taucht ein in dieses große Land und malt ein ungeschöntes, oft hartes, doch immer faszinierendes Bild. Wer Brasilien kennt, muss oftmals schmunzeln und für den Brasilien-Anfänger streut der Autor fast beiläufig Tipps für den ersten Besuch ein.
Manches Kapitel dieses Buches wirkt fehl am Platz, etwa jenes über das Städtchen Blumenau mit seinem alljährlichen Oktoberfest, jenes über den Papst-Besuch oder jenes über das Treffen mit Glenn Greenwald, der gemeinsam mit Edward Snowden den NSA-Skandal aufdeckte. Da kommt es einem so vor, als hätte der Autor rasch ein paar Reportagen zusammengepackt, um sein Brasilien-Buch noch vor der Weltmeisterschaft herausgeben zu können.
Und auch wenn das letzte Kapitel etwas abrupt und unerwartet auftaucht, ist dort vor allem der Vergleich mit anderen Schwellenländern spannend, den der Autor aufgrund seiner Erfahrungen zieht.
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Europäer und Amerikaner (verweisen) gerne darauf, was in den Schwellenländern noch alles im Argen liegt, sowohl in China als auch in Brasilien. Viele Missstände, die sie erwähnen, bestehen tatsächlich. Und doch klingt es ein wenig nach dem Wehklagen alter Männer. Tatsache ist: China, lange Zeit ein abgeschlagenes Entwicklungsland in kulturrevolutionären Wirren, ist heute die zweitgrößte Volkswirtschaft der Erde - und niemand zweifelt daran, dass es in wenigen Jahren die USA als größte ablösen wird. Und Brasilien hat Großbritannien als sechstgrößte Wirtschaftsmacht überholt und wird bald auch an Frankreich vorbeiziehen, der fünftgrößten.
Dieses Brasilien-Buch ist anders als andere. Wohltuend nüchtern und dennoch ganz nah dabei. Es blickt in die Herzen der Menschen und hinter die Kulissen. Adrian Geiges ist gerade zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
Service
Adrian Geiges, "Brasilien brennt", Quadrigaverlag / Bastei Lübbe, 2014