Chto Delat ergründet nationale Mythen

Kunst und Politik

Das russische Künstlerkollektiv Chto Delat gehört seit seiner Gründung im Jahre 2003 zum kritischen Bewusstsein Russlands. Mitte März erregte die Gruppe großes mediales Aufsehen, als sie ihre Teilnahme an der "manifesta" als Zeichen des politischen Protests zurückzog. Ab 16. Mai gastiert Chto Delat bei den Wiener Festwochen. Christine Scheucher hat sie in St. Petersburg getroffen.

  • Dimitri Vilensky

    Aus Protest hat die Gruppe Chto Delat ihre Teilnahme an der "manifesta" zurückgezogen, erklärt Dimitri Vilensky.

    (c) Scheucher, ORF

  • Nikolay Olenykov ist seit 2003 Teil der Gruppe Chto Delat.

    Nikolay Olenykov ist seit 2003 Teil der Gruppe Chto Delat.

    (c) Scheucher, ORF

  • Nikolay Olenykov und Dimitri Vilensky

    Nikolay Olenykov und Dimitri Vilensky

    (c) Scheucher, ORF

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Immer wieder hat die Gruppe dem System Wladimir Putins auf den hohlen Zahn gefühlt und mit Sorge beobachtet, wie Meinungsfreiheit und demokratische Werte untergraben werden. Der Befund der Gruppe: Das oligarchisch-kapitalistische Russland Putins fußt auf einem soliden Fundament, denn die Erinnerungspolitik der neuen Machthaber schließt nahtlos an jene der alten an.

Wer von der Metro kommend beim Moskovsky Prospekt aussteigt, entdeckt ein Petersburg, das den meisten Touristen verschlossen bleibt. Die zehn Kilometer lange Prachtstraße gehört nicht zu jenen Stadtansichten St. Petersburgs, die man als pittoreskes Postkartenmotiv kennt. Seit den 1930er Jahren ließ Josef Stalin den Stadtteil aus dem Boden stampfen. Der breite Boulevard ist von Monumentalbauten und hoch aufragenden Türmen im Stil des stalinistischen Klassizismus gesäumt. Hier sollte das Herz des neuen sozialistischen Leningrads schlagen. Hier wollte Stalin der zaristischen Residenzstadt Petersburg ein neues Gesicht verpassen. Da durfte auch ein Gedenkort nicht fehlen. Gewidmet dem großen "Tag des Sieges".

"Dieser Park heißt 'Park des Sieges' und wurde direkt nach dem Zweiten Weltkrieg eröffnet. In der 'Allee der Helden' gibt es verschiedene Denkmäler, die Helden und Heldinnen des Zweiten Weltkrieges gewidmet sind", sagt Dimitri Vilensky. Vilensky ist so etwas wie das mediale Aushängeschild der russischen Künstlergruppe Chto Delat, die heute in der "Allee der Helden" einen Performance-Workshop veranstaltet. Er ist 50 Jahre alt, klein, trägt eine Lederjacke und Turnschuhe. Ständig klingelt sein Mobiltelefon. Vilensky zündet sich eine Zigarette nach der anderen an und beantwortet Fragen. Das Interesse an Chto Delat ist in letzter Zeit groß. Eine Reporterin des Kultursenders Arte ist eigens angereist. Sie versucht, mit Vilensky Schritt zu halten.

Manifesta-Boykott?

Ende Juni eröffnet die "manifesta", die europäische Wanderbiennale, in St. Petersburg. Kuratiert von Kaspar König, dem Grand Seigneur der deutschen Kunstszene. König will in den Räumlichkeiten der weltberühmten Eremitage ganz große Namen zeigen: Wolfgang Tilmanns zum Beispiel, Joseph Beuys, Maria Lassnig und Cindy Shermann.

Auf die aktuelle politische Großwetterlage, die Invasion der Krim, das imperiale Säbelrasseln Wladimir Putins reagierte der Kurator und einstige Direktor des Museum Ludwig in Köln nicht. Für Chto Delat, die als einzige russische Gegenwartskünstler bei der "manifesta" teilnehmen hätten sollen, Grund genug zum Boykott aufzurufen. "Soweit ich mich erinnere, haben viele Beobachter gesagt, dass nach den olympischen Spielen in Sotschi etwas passieren wird. Tatsächlich verschärfte sich die Situation in der Ukraine nachdem die Spiele zu Ende waren. Nach der russischen Invasion der Krim war für uns klar, dass die 'manifesta' sich politisch positionieren muss. Wir haben also einen offenen Brief publiziert und den Kurator Kaspar König gebeten, mit uns in Dialog zu treten. Die Antwort war ohne Aussage, ja arrogant, weil man politische Positionierung an sich mit billiger Provokation gleichsetzte. Also haben wir beschlossen, unsere Teilnahme zurückzuziehen."

Schon in der Vergangenheit hat das Kollektiv Chto Delat dem System Wladimir Putins auf den hohlen Zahn gefühlt und mit Sorge beobachtet, wie Meinungsfreiheit und demokratische Werte untergraben werden. Nikolay Olenykov, von Beginn an Teil der Gruppe Chto Delat, beobachtet die jüngsten Entwicklungen kritisch: "Putin verwendet dieselbe Rhetorik und benützt dieselben Gesten und Heldengeschichten wie die sowjetischen Machthaber. In der Sowjetunion gab es eine ausgeprägte Erinnerungskultur - vor allem was die Geschichte des Zweiten Weltkrieges betrifft. Die Heldenverehrung der Sowjet-Ära ist immer noch in unserem kollektiven Gedächtnis verankert. Putin bezieht sich darauf und sagt: Die Macht der Sowjetunion ist immer noch die Macht Russlands. Russland tritt das Erbe der im Zweiten Weltkrieg siegreichen Sowjetunion an. Das ist Putins Botschaft."

Die großen Helden der Sowjetunion. Sie leben immer noch. Auch wenn heute der schwere Geruch des Weihrauchs, den man aus russisch orthodoxen Kirchen kennt, durch die einstigen Heldenhallen weht. Denn die Kirche ist der zweite Pfeiler, auf den sich das neue Russland stützt.

Die großen Helden der Sowjetunion

Mitte April haben Chto Delat im "Park des Sieges", diesem sowjetischen Erinnerungsort, der heute als Naherholungsgebiet genützt wird, einen Workshop organisiert. Im vergangenen Jahr hat das Kollektiv einen Performance-Lehrgang für junge Künstler und Künstlerinnen ins Leben gerufen. Der Lehrgang sei eine Reaktion auf die Kunstausbildung in Russland, sagt Nikolay Olenykov. "Traditionellerweise ist die Kunstausbildung in Russland wie im 19. Jahrhundert. Die Ausbildung dreht sich in Wesentlichen um die Vermittlung von Maltechniken. Das war in der Sowjetunion sinnvoll, weil der sozialistische Realismus jene Kunstrichtung gewesen ist, die von oberster Stelle gefördert wurde. Aber heute geht es nur noch darum, Leute dazu anzuregen, noch mehr Kirchen, noch mehr Heilige und noch mehr Zaren zu malen. Wenn man diese Bilder sieht, fühlt man sich ins 19. Jahrhundert zurückversetzt." Und Dimitri Vilensky fügt hinzu: "Die Akademie in St. Petersburg ist voll mit Studenten und Studentinnen aus China. Es ist eine Ausbildungsstätte für Leute, die Kunstwerke fälschen. Vor allem in China hat man sich darauf spezialisiert, Kunst zu fälschen: von Malewitsch bis zu Rembrandt. Und viele Fälscher werden hier ausgebildet." Deshalb brauche man eine unabhängige Kunstausbildung in Russland, fügt Dimitri Vilensky hinzu. In diesem Semester widmen sich das Kollektiv Chto Delat in seinem Lehrgang dem Thema Denkmäler und Monumente. Heute steht die sowjetische Nationalheldin Soja Kosmodemjanskajas im Zentrum.

Dimitri Vilensky schüttelt hektisch den Kopf. Die Heldenverehrung in der Sowjetunion sei all gegenwärtig gewesen, sagt er und Soja Kosmodemjanskajas eine Heldin seiner Kindheit. Als 18-jähriges Mädchen schloss sich Soja einer Partisanengruppe an, die Scheunen, Ställe und Dörfer in Brand setzte. Auf Befehl Stalins wurde verbrannte Erde geschaffen. Die deutschen Invasoren sollten weder Lebensmittel noch Unterkünfte vorfinden. "Soja sollte dabei helfen, Stalins Taktik der verbrannten Erde umzusetzen. Die Russen schickten Partisanentrupps auf die andere Seite der Frontlinie. Dort zündeten diese Partisanen Dörfer an. Man wollte verhindern, dass die Nazis in diesen Dörfern Unterkunft und Verpflegung finden. Natürlich schadete man damit aber auch der lokalen Bevölkerung. Deshalb ist Soja eine ambivalente Figur. Aber sie wurde von den Nazis gehängt und zur Märtyrerin. Man schrieb ihren Namen auf Flugzeuge und schwor, ihren Tod zu rächen. Nach dem Krieg wurde sie zum Vorbild stilisiert. Soja war ein Mädchen, das immer versucht hatte, das Richtige zu tun", sagt der US-amerikanische Slawist John Roberts. Er arbeitet immer wieder mit Chto Delat zusammen. Im Augenblick schreibt er ein Buch über Soja Kosmodemjanskajas.

Stalins Propagandamaschine

Eine Studentin hat das Bild der toten Soja Kosmodemjanskajas vor das Denkmal gelegt. 1942 hatte es der Journalist Pjotr Lidow geschossen und in der Prawda veröffentlicht. Eine Fotografie der exhumierten Leiche Sojas. Lidow legte die Leiche mit halb entblößtem Oberkörper und einem Strick um den Hals in den Schnee und schoss sein Bild. "Dieses Bild hat die Menschen schockiert und wirkte mobilisierend. Am Beispiel Sojas kann man studieren, wie die Sowjetunion Helden geschaffen hat. Das Bild wurde gestellt und von der exhumierten Leiche des Mädchens gemacht. Ihr Bild wurde instrumentalisiert und manipuliert."

Chto Delat bei den Wiener Festwochen

Ab nächster Woche sind Chto Delat zu Gast in Wien. Auch hierzulande blickt die Gruppe zurück auf die Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Einen Monat lang werden Chto Delat am Schwarzenbergplatz ein großes Festival veranstalten. Skulpturen sollen vor Ort entstehen, akustische Touren laden zur Erkundung ein, in Vorträgen und Diskussionen wird das Thema Gedenkkultur verhandelt. Und das alles direkt vor dem Heldendenkmal der Roten Armee.

Bis heute, sagt Dimitri Vilensky, spiele der Sieg der Roten Armee über das faschistische Deutschland eine große, ja eine zentrale Rolle in der russischen Gedenkkultur. "Die Konstruktion der russischen Identität fußt ganz maßgeblich auf dem 'Tag des Sieges' am 9. Mai, dem Tag, an dem die Rote Armee Europa befreit hat. So zumindest lautete die Lesart der Sowjetunion. Künstler waren immer Teil der Gedenkkultur. Heute ist das Thema wieder besonders interessant. Man muss sich fragen, was ein Monument ist, was Kunst im öffentlichen Raum leisten kann und leisten soll. Denken Sie zum Beispiel an die Ukraine: Statuen von Lenin oder von sowjetischen Soldaten sind attackiert worden. Natürlich ist das ein bisschen archaisch, aber gleichzeitig stören die Geister der Vergangenheit unsere Zukunft."

Service

Wiener Festwochen - Chto Delat. Face to Face with the Monument