Was in der Ukraine auf dem Spiel steht
Euromaidan
Begonnen hat alles am 21. November 2013 am Maidan mit einer kleinen Versammlung am symbolträchtigen Hauptplatz von Kiew. Seither überschlagen sich im flächenmäßig größten Land Europas die Ereignisse. "Nichts ist mehr wie es war", heißt es deshalb in einem kürzlich im Suhrkamp-Verlag erschienener Sammelband mit dem Titel: "Euromaidan". Herausgegeben hat ihn Juri Andruchowytsch, der wohl bekannteste Gegenwartsautor des Landes.
8. April 2017, 21:58
"Am schwersten hatte es Julia. Man brachte ihr die Mobiltelefone der Gefallenen. Am schrecklichsten war es zuzusehen, wenn auf dem Display das Wort 'Mama' aufleuchtete", schildert der Autor und Herausgeber Juri Andruchowytsch in seinem Einleitungsessay, in dem er viele Geschichten vom Maidan versammelt. Am 18. Februar 2014 eskalierte dort die Lage völlig. Bei den schweren Zusammenstößen zwischen Spezialeinheiten und Regierungsgegnern kamen mehrere Dutzend Menschen ums Leben.
"Wenn ich die internationale Berichterstattung über die Ukraine lese, dann versuche ich mir vorzustellen, wie die Toten des Maidan auf diese Nachrichten reagiert hätten", schreibt Kateryna Mishchenko, Aktivistin. Und meint damit: Die Annexion der Krim durch die Russen, die Unterzeichnung des ersten Teils des Assoziierungsvertrags mit der EU durch die ukrainische Interimsregierung, sowie die nach wie vor aktuellen Unruhen im Osten des Landes. In der Ukraine überschlagen sich die Ereignisse im Wochentakt.
Zunehmende Polizeigewalt
Im Rückblick nennt Kateryna Mishchenko als die wichtigsten Motive für die Proteste am Maidan Janukowitschs Außenpolitik, die zunehmende Polizeigewalt und die grassierende Korruption:
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Während der ersten Protesttage, die ich auf dem Maidan verbrachte, war ich verblüfft über das Ausmaß meiner Entfremdung von der sozialen Realität in der Ukraine. Ein Mann erzählte von seiner kleinen Autoreparaturwerkstatt. Jeden Monat kamen Milizionäre vorbei und verlangten eine kostenlose Wartung ihrer Autos. Bis er sich eines Tages weigerte, weil er kein Geld hatte, um seine Angestellten zu bezahlen. Da schlugen ihn die Milizionäre zusammen. Der Mann packte seine Sachen und fuhr zum Maidan.
Von Ende November bis Ende Februar - also rund 13 Wochen - dauerten die Proteste am Maidan. Von Gegnern wurden sie zusehends als rechtsextrem bzw. faschistisch diskreditiert, so etwa vom staatlichen russischen Fernsehen. Ein politischer Trick.
Der rechte Sektor
"Die Bekanntheit des rechten Sektors beruht zum Großteil auf Konstruktion", sagt der Politologe und Rechtsextremismus-Forscher Anton Shekhovtstov. Er stammt von der Krim, lebt heute in London und interviewte im Jänner 2014 die Aktivisten des rechten Sektors - die Bewegung hatte damals ihren eigenen Aussagen zufolge ungefähr 300 Mitglieder - eine angesichts der umfangreichen medialen Berichterstattung über rechtsextreme Bewegungen in der Ukraine überraschend niedrige Zahl. Anton Shekhovtstov erklärt das mit dem Phänomen "Polittechnologie", zu dem er auch sogenannte Parteiattrappen zählt.
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Die Kreml-freundlichen Medien in Russland, der Ukraine und in der westlichen Welt haben die Existenz von Swoboda und dem rechten Sektor bereits ausgeschlachtet, um die Euromaidan-Proteste zu diskreditieren. In diesem Zusammenhang stellt der Rechte Sektor eine "Parteiattrappe" dar.
Schildern, was am Maidan passiert ist, erklären, warum eine lokale Demonstration schnell zu einer landesweiten Protestbewegung wurde, mediale Erzählstränge zurechtrücken. Diese drei Ziele verfolgen die fünfzehn Essays in "Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht."
Mehr Lügen als Wahrheiten
"Seit dem ersten Schuss ist nichts mehr, wie es war. Die Revolution hat eine neue Phase erreicht. Die Bürger gehen aufeinander los", schildert der Aktivist, Musiker und Lyriker Serhij Zhadan aus der ostukrainischen Stadt Charkiv. Tatsächlich ist mittlerweile - nicht allein in der Ukraine - von einem Bürgerkrieg die Rede. Mit verprügelten Euroaktivisten, zerrissenen ukrainischen Fahnen, besetzten Verwaltungsgebäuden und Toten in Charkiv und Donezk im Osten und Odessa im Süden des Landes.
"Die Wahrheit ist das erste Opfer des Krieges", lautet ein bekannter Ausspruch. Er beweist auch in der Ukraine seine Gültigkeit: "Die Lüge war schon im Stalinismus ein beliebtes Instrument" schreibt der österreichische Autor, Übersetzer und Osteuropakenner Martin Pollack. Er will aufklären. Darüber, dass es in der Ukraine zu keinen Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung kommt und darüber, dass die russischsprachige Bevölkerung nicht Gewalt fürchten muss.
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In den letzten Wochen tauchte in den russischen Medien immer wieder eine blonde Frau mit Brille auf, um die vierzig. Einmal wurde sie in der Stadt Nowotscherkassk im Südwesten Russlands gezeigt, wo sie als "Flüchtling aus Donezk" auftrat. Sie sei, so sagte sie, bei Nacht und Nebel von zu Hause geflüchtet, weil sie um ihr Leben bangen musste. Ein paar Tage später war wieder eine Frau, den anderen verblüffend ähnlich, zu sehen, diesmal bei einer Demonstration auf der Krim, wo sie sich als Bewohnerin von Odessa ausgab. Ukrainische Internet-User fanden heraus, dass es sich jedes Mal um dieselbe Frau handelte. Wie viel man ihr für ihre Auftritte bezahlt hatte, wurde nicht bekannt.
Diskreditierung der Proteste
Russland hat es nicht nur geschafft, die Euromaidan-Protestbewegung zu diskreditieren, sondern bestimmt auch die aktuelle Diskussion über die Zukunft der Ukraine, so der Tenor der Essays. Wer denkt noch an die friedlichen Versammlungen von Hunderttausenden Menschen in Kiew, während im Osten des Landes einige hundert schwer bewaffnete Separatisten für eine gewalttätige Loslösung von der Ukraine kämpfen? Und dabei vermutlich - wie zuvor auf der Krim - von Russland unterstützt werden.
"Der Annexion lag ein Bündel von außen- und innenpolitischen Motiven zugrunde", erklärt der Leipziger Historiker Wilfried Jilge, Kenner der Ukraine, der Krim und Russlands. Und führt aus:
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Das Gelingen des europäischen Projekts im ukrainischen "Bruderstaat" könnte demokratischen Bestrebungen in Russland wieder Auftrieb geben. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Diskreditierung der Proteste auf dem Kiewer Maidan als "faschistisches" und destruktives Chaos in russischen Medien bereits mit dem Beginn der Demonstrationen eingesetzt hat.
"Jene, die am lautesten sind, haben nicht automatisch Recht" - das machen die Reportagen und Erklärstücke in "Euromaidan" deutlich. Der Sammelband bleibt, wie die Realität auch, Lösungsszenarien für die Ukraine schuldig, die binnen Wochen vom Rande Europas ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit gerückt ist.
Service
Juri Andruchowytsch (Hg.), "Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht", edition suhrkamp