Essay von Isolde Charim
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - das war jahrhundertelang eine Pathosformel, die Massen bewegt hat. Aber einmal ganz ehrlich - würden Sie diesen Spruch heute noch über die Lippen bringen? Als leidenschaftliche Forderung? Eben. Und jenseits des Pathos - wie steht es da um die drei Postulate?
8. April 2017, 21:58
Brüderlichkeit
Da ist einmal die Brüderlichkeit. Die lässt sich schon als Begriff nicht halten. Mit der Frauenbewegung ist sie zur Geschwisterlichkeit mutiert. Warum aber braucht eine Gesellschaft überhaupt so etwas wie eine geschwisterliche Beziehung ihrer Mitglieder? So paradox es klingt: Es war der Versuch, gerade in Massengesellschaften eine Art von Bindung herzustellen, die mehr sein sollte als Markt- oder politisches Verhältnis. Und das Modell dafür war - ausgerechnet - die Familie.
Bei Freud findet man zwei Modelle für Geschwisterlichkeit in Großgruppen. Da wäre zum einen die Urhorde. Hier hat erst die gemeinsame Tötung des tyrannischen Urvaters die Söhne auch emotional zu Brüdern gemacht. Das wäre das revolutionäre Modell. Das andere ist jenes der Massenpsychologie. Da braucht es ein gemeinsames Zentrum, eine zentrale Figur oder Idee, um die sich alle scharen, mit der sich alle identifizieren können. Das verwandelt die Masse der Einzelnen in eine Gruppe mit einer emotionalen, geschwisterlichen Bindung.
Der französische Philosoph Jacques Derrida hingegen meint, man müsse Demokratie gänzlich von der Vorstellung einer familienähnlichen Beziehung lösen. Denn das Familiäre stellt nicht nur Nähe her, es ist eben auch (siehe Freud und die historische Erfahrung) ein Verhängnis. Derridas Prinzip lautet: Freundschaft statt Geschwisterlichkeit.
Gleichheit
Wie steht es nun um die Gleichheit? Nach dem Urteil des Demokratietheoretikers Pierre Rosanvallon nicht allzu gut. Der massive Anstieg von Ungleichheit hat die Gleichheit in eine "moralische, ökonomische, soziale und intellektuelle" Krise gestürzt.
Worin sollen denn alle gleich sein? Da gibt es zum einen die quantitative Gleichheit. Da zählt jede/r - egal was er oder sie ist - gleichberechtigt als eine/r. Etwa als Wähler/in: One Man, One Vote. Das ist eindeutig. Darüber hinaus braucht es aber noch eine qualitative Gleichheit: eine Vorstellung, in der wir uns alle wiedererkennen, eine Figur, die uns alle zu Ähnlichen macht. Etwa die Vorstellung vom Menschen in den Menschenrechten.
Historisch aber war es vor allem die Vorstellung der Nation, die deren Angehörige zu Ähnlichen, zu annähernd Gleichen machen sollte. Zumindest zu Vergleichbaren. Heute funktioniert das immer weniger: zum einen, weil die nationale Erzählung immer weniger greift, zum anderen, weil die Vermögensverhältnisse so auseinanderdriften, dass die Grundlage für Vergleichbarkeit verschwindet. Was aber wäre der Ausweg?
Die Rückkehr zur alten Form von Gleichheit ist versperrt. Wir werden uns nicht mehr in der Ähnlichkeit eines fixen nationalen Modells gleichen. Unsere plurale Gesellschaft braucht ein anderes, ein neues Modell von Gleichheit. Ein Modell, das Antwort gibt auf die Frage unserer Zeit: "Wie kann man ähnlich und einzigartig, gleich und verschieden sein?" (Rosanvallon).
Alte und neue Gleichheit - das ist in etwa der Unterschied zwischen der Straßenverkehrsordnung, die einheitliche, disziplinierte und darin gleiche Verkehrsteilnehmer verlangt, und der Begegnungszone, in der unterschiedliche Einzelne unterwegs sind, ohne einander zu stören. Gleich sind sie nicht in ihrer Ähnlichkeit, sondern in ihrer Differenz.
Freiheit
Dann bleibt noch die Freiheit. Zu einer zentralen Kategorie unserer Gesellschaft avanciert, sieht sie in ihrer neoliberalen Version nur etwas anders aus: Da geht es nicht um die Freiheit des Volkes von Unterdrückung. Da geht es um die Freiheit des Einzelnen. Jeder kann und muss für sich selbst bestimmen, was ein gutes Leben ist. Und jeder kann und muss dieses gute Leben alleine erreichen. Da gibt es zwei Möglichkeiten: Es gelingt oder es gelingt nicht.
Im Scheitern zeigt sich, wie knallhart das ist. Da wird Freiheit zum Freigesetzt-, zum Ausgesetzt-Werden im ungeschützten Raum.
Und wenn es gelingt, das gute Leben? Dann ist Freiheit gleichbedeutend mit Erfolg. Ist das aber wirklich noch Freiheit? Ja und nein. Das ist das Problem. Es ist etwas Freiheit und zugleich ist es auch etwas Unterwerfung. Neoliberalismus funktioniert nach dem Judo-Prinzip: da werden die Kräfte des Gegners umgelenkt und gegen ihn gewendet.
Die Emanzipation wollte die Menschen frei, selbstbestimmt und autonom machen. Und nun folgen die Menschen gerade in ihrem autonomen, selbstbestimmten, freien Handeln den Vorgaben des Marktes. Dieser, der Markt, bedarf solcher Individuen, die nicht gezwungen werden müssen, Individuen, die von selbst funktionieren - die also von alleine den Markterfordernissen entsprechen. Das ist aber nicht so absolut, wie es klingt. Die vom Markt vorgeschriebene Freiheit verändert die Menschen. Das, was da freigesetzt wird, lässt sich nicht gänzlich einfangen und kanalisieren. Wenn der Geist einmal aus der Flasche ist, dann kann er durchaus auch einen emanzipatorischen Kollateralnutzen haben.
Was also wäre die zeitgemäße Übersetzung von Freiheit - Gleichheit - Brüderlichkeit? Die in Freundschaft verbundenen Einzelnen, die in der Begegnungszone unserer Gesellschaft eigenständig ihre Interessen verfolgen. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger.
Text: Isolde Charim, Philosophin und Publizistin in Wien