Erinnerungen von Marianne Birthler

Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben

Sie machte sich einen Namen als DDR-Bürgerrechtlerin und Chefin der Stasi-Unterlagenbehörde. Jetzt hat Marianne Birthler ihre Lebenserinnerungen zu Papier gebracht: "Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben" lautet der etwas sperrige Titel ihrer Autobiografie, das auch ein Stück deutsch-deutsche Geschichte nachzeichnet.

Friedliche Revolutionärin, Parteivorsitzende der deutschen Grünen, zuletzt Wächterin über die Stasi-Akten: Marianne Birthler hat in der jüngeren Geschichte Deutschlands deutliche Spuren hinterlassen.

Ihre Lebenserinnerungen beginnen im Ost-Berlin der Nachkriegszeit. Einer der ersten Eindrücke: die russischen Panzer, die 1953 durch Berlin rollten und die Niederschlagung des Volksaufstandes vom 17. Juni markierten. Birthler war damals fünf Jahre alt. Sie erzählt vom ideologischen Druck, dem sie später - als Schülerin - im SED-Staat ausgesetzt war, von der Entscheidung zwischen der Partei-Jugendorganisation FDJ und der Kirche - Birthler entschied sich für Letztere - und von ihren kleinen Fluchten aus dem sozialistischen Alltag: Heimlich wurden westliches Fensehen geschaut, wodurch die Menschen gut auf dem Laufenden waren.

Stasi-Archiv

Tag der offenen Tür am 15. 1. 2005 im Stasi-Archiv: Gemeinsam besichtigen die damalige Kulturstaatsministerin Christa Weiss (l), die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes, Marianne Birthler, und der ehemalige Außenminister der DDR, Markus Meckel das Archiv der Stasi in Berlin.

(c) dpa/dpaweb/dpa/A3116 Tim Brakemeier

Keine "Herde von Lämmern"

Anfang der 1980er Jahre - Marianne Birthler war inzwischen Mutter von drei Töchtern - arbeitete sie in der evangelischen Kirche. Dort sammelte sich jene Oppositionsbewegung, die wesentlich zum Sturz des SED-Regimes in der DDR beitrug. 1989, im Jahr der friedlichen Revolution, stand Birthler dann in der ersten Reihe, gemeinsam mit Bürgerrechtlern wie Rainer Eppelmann, Bärbel Bohley oder Ulrike und Gerd Poppe. Immer präsent: die Angst vor einer Verhaftung und was dann mit ihren Kindern geschehen würde.

Anfang 1989 verzeichnete die Oppositionsbewegung regen Zulauf: Die Bürgerrechtler konnten dem SED-Regime bei den Kommunalwahlen im Mai erstmals Wahlbetrug nachweisen. Dieser kleine Sieg gegen die übermächtige Staatsgewalt wirkte wie eine Kraftpille, erinnert sich Marianne Birthler. Dies zeigte ihr, dass die Oppositionellen keine "Herde von Lämmern" war, sondern etwas durchsetzen kann. Das sei "schon tolles Gefühl für einen erwachsenen Menschen".

Was folgte, ist längst Geschichte: Nach wöchentlichen Massenprotesten und einer beispiellosen Ausreisewelle überschlugen sich am Abend des 9. November 1989 die Ereignisse: die Mauer fiel, die Revolution ging unblutig zu Ende. Auch Birthler ist in dieser Nacht rübergangen nach West-Berlin. 28 Jahren hatte sie mit der Mauer gelebt, nun war sie offen.

Karriere in der Politik

Auch als die Opposition nach dem Mauerfall mit der noch regierenden SED am Runden Tisch verhandelt, ist Marianne Birthler mit dabei. Nach den ersten - und letzten - freien Wahlen der DDR wird sie sogar Mitglied der Volkskammer und bleibt auch nach der Wiedervereinigung in der Politik. Birthler wird grüne Bildungsministerin in Brandenburg, tritt wegen der Stasi-Kontakte des damaligen Brandenburger Ministerpräsidenten, Manfred Stolpe, aber bald zurück.

Mitte der 1990er Jahre wird Birthler dann Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag - damals noch in Bonn. Kein leichter Job, auch weil sie als Frau aus dem Osten mit der Streitkultur im Westen wenig Erfahrung hat, schreibt sie. Peinlich der Auftritt des westdeutschen Grün-Politikers Joschka Fischer, an den sie sich in ihrem Buch erinnert: der wusste bei einem Zusammentreffen mit ostdeutschen Schriftstellern nichts zu sagen. Birthlers Fazit: im Westen war man an den Ostdeutschen wenig interessiert, während man von den Ostdeutschen Anpassung forderte. "Ich weiß, dass es für viele Ostdeutschen was Beschämendes hatte", sagt Birthler.

Die "Birthler-Behörde"

Im Jahr 2000 übernahm die heute 66-jährige Marianne Birthler jene Position, die sie auch über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt machte: Sie wurde Leiterin der Stasi-Unterlagenbehörde und damit Nachfolgerin von Joachim Gauck. Im Volksmund heißt das Amt, das sich um die Aufarbeitung der Stasi-Akten bemüht, bald nur mehr Birthler-Behörde.

Lesenswert ist jene Szene im Buch, in der Birthler ins Kanzleramt zitiert wird, wo sie der damalige Hausherr Gerhard Schröder mit einer Flasche Rotwein empfängt. Es ging um Alt-Kanzler Helmut Kohl, der die Herausgabe einiger ihn betreffenden Akten verhindern wollte. Birthler setzte sich durch, wie auch später noch des Öfteren. 2011 endete ihre Amtszeit.

Viel hat sich getan seit der Maueröffnung: Angela Merkel, eine Frau aus dem Osten, ist Bundeskanzlerin, Birthlers Vorgänger Joachim Gauck in der Stasi-Unterlagenbehörde, auch er ein Ex-DDRler, ist Bundespräsident. Ist der viel beschworene Unterschied zwischen Ost und West also endgültig zu Grabe getragen, im Jahr 25 nach der Revolution? Nicht ganz, meint Marianne Birthler. Leute aus Ostdeutschland in Führungsgremien müsse man immer noch "mit der Lupe suchen".

"Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben". Der Titel von Marianne Birthlers gesammelten Lebenserinnerungen mag etwas sperrig sein, der Inhalt ist es ganz und gar nicht. Lebendig und anschaulich führt uns die Autorin durch über 50 Jahre deutsch-deutsche Zeitgeschichte. Was das Buch besonders sympathisch macht: auch den Momenten des Scheiterns ist viel Platz gewidmet - anders als in den meisten Politikerbiografien.

Service

Marianne Birthler, "Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben", Hanser Verlag