Staatspreis an Ljudmila Ulitzkaja
Die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja hat mit Büchern wie "Daniel Stein" oder "Das grüne Zelt" international große Beachtung erlangt. Anhand von Familienporträts und Lebensgeschichten durchleuchtet die Autorin ganze Epochen und Generationen. Kritisch äußert sie sich auch immer wieder zur Geschichte und Gegenwart Russlands. Heute wird Ulitzkaja in Salzburg von Kulturminister Josef Ostermayer mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet.
8. April 2017, 21:58
Morgenjournal, 26.7.2014
"Situation zwingt mich, politisch zu sein"
"Ich kann Politik überhaupt nicht leiden, aber die Situation zwingt mich dazu, politisch zu sein", erklärte Ljudmila Ulitzkaja einmal. Und gesellschaftspolitisch motiviert war auch ihr bisher letzter großer Erfolgsroman: "Das grüne Zelt", auf Deutsch 2012 beim Hanser Verlag erschienen. Darin erzählt sie die Geschichte dreier Freunde, die in der Sowjetunion der 1960er-Jahre zu Dissidenten werden - und schafft damit das Porträt einer Generation, die in einem Klima von Angst, Bespitzelung und Verrat groß geworden ist.
Es gebe heute viele junge Menschen in Russland - auch Freunde ihrer Kinder - die meinen, die Protestbewegung der 1960er-Jahre sei schuld an den heutigen politischen Zuständen, sagt Ulitzkaja. Sie wollte dieser Auffassung etwas entgegensetzen. In "Das grüne Zelt" gehe es nicht um die großen Dissidenten dieser Zeit, sondern um jene, die im Kleinen protestiert und etwa verbotene Literatur verbreitet hätten. Es gehe also um jenes Umfeld, in dem sie selbst groß geworden sei.
Aus Genetikerin wurde Literatin
1943 in der Nähe von Jekaterinburg geboren, studierte Ulitzkaja zunächst Biologie und arbeitete als Genetikerin. Ihre Forschungsgruppe wurde wegen Verbreitung illegaler Literatur aufgelöst. Da Ulitzkaja keine Anstellung mehr fand, sattelte sie auf Geisteswissenschaften um. 1983 veröffentlichte sie ihren ersten Erzählband im staatlichen Kinderbuchverlag. Anfang der 90er-Jahre wurde sie auch als Prosaautorin entdeckt. Der Illusion, als Literatin die Gesellschaft umkrempeln zu können, hat sich Ulitzkaja nie hingegeben.
"Die Krim ist unser"-Losung folgt Mehrheit
Das wohl berühmteste Buch über den Stalinismus, Solschenizyns "Archipel Gulag", hätten ja alle gelesen, so Ulitzkaja. Und trotzdem habe die Bevölkerung jemanden gewählt, der aus dem KGB-System gekommen sei - jenem System, das diese blutige Spur in der russischen Geschichte hinterlassen habe. Der Traum vom großen Imperium sei nach wie vor tief in der Bevölkerung verwurzelt.
Und so hätten weitsichtige Politikwissenschaftler auch die Krise in der Ukraine schon lange kommen sehen, sagt Ulitzkaja - auch wenn sie und viele andere gehofft hätten, dass es nie soweit kommen würde. Die mediale Propagandamaschine der Regierung Putin funktioniere: Nur die gebildetere Schicht könne den offiziellen Informationsquellen ausweichen. 85, wenn nicht 90 Prozent hingegen folgen begeistert der von der Regierung ausgegebenen Losung "Die Krim ist unser", berichtet Ulitzkaja.
Als "Meisterin in der schönen Kunst der Verschwendung" bezeichnet der Schriftsteller Karl-Markus Gauß seine russische Kollegin, bezugnehmend auf ihren Hang zu Monumentalromanen, in denen sie ganze Familiengeschichten erzählt und Epochen zum Leben erweckt. Gauß war am 26. Juli der Laudator für Ljudmila Ulitzkaja, die den Staatspreis für Europäische Literatur im Rahmen der Salzburger Festspiele verliehen bekam.