Eine innere Geschichte des neuen Amerika
Die Abwicklung
Was ist los mit Amerika? Warum gibt es immer mehr arme Leute, für die Leben bloß noch überleben heißt? Und parallel dazu mehr und mehr Superreiche, die gar nicht wissen, wohin mit ihrem Geld?
8. April 2017, 21:58
Warum gibt es in der Gesellschaft keinen Zusammenhalt? Nicht mehr die eine große Idee, die die verschiedenen sozialen und ethnischen Gruppen zusammenschweißt. George Packer nennt diese soziale und kulturelle Verschiebung "Abwicklung" und illustriert diesen Prozess anhand von persönlichen Schicksalen.
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Wer um 1960 oder später geboren wurde, hat sein gesamtes Erwachsenenleben im Taumel dieser Abwicklung verbracht. Er musste mit ansehen, wie Bauwerke und Institutionen, die bereits vor seiner Geburt bestanden hatten, wie Salzsäulen zerfielen. Auch andere Aspekte zerbröckelten bis zur Unkenntlichkeit - der Umgang in den Hinterzimmern von Washington, die Tabus in den New Yorker Handelsbüros, Manieren und Moral.
Brillante Porträts und biografische Notizen
George Packers Thema ist nicht unbedingt originell. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht Feuilletonbeiträge und Bücher den Niedergang Amerikas beklagen. Was dieses Werk von anderen unterscheidet, ist der Zugang, den Packer wählt. Denn er illustriert die Abwicklung anhand von persönlichen Porträts.
Da ist zum Beispiel Dean Price, beseelt vom sprichwörtlichen amerikanischen Pioniergeist. Er gründet Firmen, scheitert, gründet neue Firmen. Er stellt Biodiesel her und ist für kurze Zeit ein Vorzeigeunternehmer - bis er wegen Steuerhinterziehung angeklagt wird.
Dann gibt es Tammy Thomas, eine Fabrikarbeiterin, die versucht, sich und ihre Kinder durchzubringen. Sie verliert einen Großteil ihrer Ersparnisse an einen Betrüger und beginnt, sich politisch zu engagieren.
Die dritte Person, die Packer ausführlich porträtiert, ist Jeff Connaughton, der in den 1980er Jahren in die Politik ging und für den heutigen Vizepräsidenten Joe Biden arbeitete. Zwischen diese ausführlichen und brillant geschriebenen Porträts hat Packer noch kurze biografische Notizen bekannter amerikanischer Persönlichkeiten eingeflochten. Oprah Winfrey, Jay-Z, Colin Powell, um nur die bekanntesten zu nennen.
Tampa wuchs, die Wälder fielen
Der letzte Hauptdarsteller dieses Buches ist keine Person, sondern ein Ort. Tampa in Florida.
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Alles sah danach aus, dass Tampa die nächste Stadt mythischer Größe werden könnte. Tampa bot Sonne, Strand und ein rasantes Wachstum - jedes Jahr kamen Millionen neuer Besucher nach Florida - und da auf Sonne und Strand Verlass war und der Menschenstrom nicht nachließ, schien es nur eine Frage der Zeit, bis sie ihren eigenen Mythos erschaffen würde.
Tampa wuchs und wuchs und diesem Wachstum fielen Kiefernwälder zum Opfer, Zwergpalmenstrände, Orangenhaine, Mangroven und Erdbeerfelder. Dafür entstanden, Wohnungen, Wohnungen und nochmals Wohnungen. Was dazu führte, dass die Stadt von der Immobilienkrise 2008 besonders hart getroffen wurde. Und so ist es nur schlüssig, dass Packer mit dem Journalisten Michael van Sickler die leerstehenden Gebäude in Tampa besucht oder Menschen porträtiert, die ihre Häuser verloren haben.
Demgegenüber steht Silicon Valley, der Ort, wo heute Geschichte geschrieben wird, und wo Leute wie Peter Thiel arbeiten: Peter Thiel wurde in Deutschland geboren, ist hochintelligent und war der Gründer des Internet-Bezahlsystems Paypal, das er 2002 an die Börse brachte.
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Als sie am Abend den Börsengang feierten, spielte Thiel zwölf simultane Partien Blitzschach gegen seine Kollegen. Im Oktober kaufte eBay, denen es nicht gelungen war, eine bessere Alternative zu schaffen, PayPal für 1,5 Milliarden Dollar. Thiel verließ die Firma noch am selben Tag, seine Investition von 240.000 Dollar brachte ihm 55 Millionen.
John Don Passos zum Vorbild
Am Höhepunkt der Depression der 1930er Jahre verfasste der amerikanische Autor John Dos Passos seine USA-Trilogie, bestehend aus den Romanen "Der 42. Breitengrad", "Neunzehnhundertneunzehn" und "Die Hochfinanz". In diesen drei Bänden, die heute als Klassiker der Weltliteratur gelten, versuchte Dos Passos die Krise anhand fiktionaler Charaktere zu beschrieben.
George Packer will mit seinem Sachbuch in die Fußstapfen von John Dos Passos treten, was nur teilweise gelingt, denn einerseits war Dos Passos einer der größten Schriftsteller seiner Zeit; andererseits war seine USA-Trilogie Literatur. George Packer hingegen legt ein Sachbuch mit Porträts realer Personen vor. Und obwohl die Reportagen großartig geschrieben sind, fehlt doch ein wenig der Überbau.
Packer lässt seine kritische Sicht auf die USA immer wieder aufblitzen; er berichtet, dass eine gute Universität heute für die allermeisten Menschen nicht mehr leistbar ist und das zentrale Motiv, das sich durch diesen Band zieht, ist die Klage über die Deindustrialisierung der USA. Das alles ist aber leider nicht wirklich neu. Und so hat der Leser am Ende der Lektüre das Gefühl, ein gut geschriebenes Buch gelesen zu haben, das aber weder neue Erkenntnisse liefert, noch ein besseres Verständnis der wirtschaftlichen und politischen Zusammenhänge.
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George Packer, "Die Abwicklung", deutsch von Gregor Hens, S. Fischer Verlag