Erdogan lässt sich zum Präsidenten wählen

Ein Land, gegenüber dem die EU vor allem mit einer Stimme sprechen sollte, ist die Türkei. Dort steht der langjährige Regierungschef Recep Tayyip Erdogan kurz davor, sein selbst gestecktes Ziel zu erreichen: das Amt des Staatspräsidenten. Das war bisher ein eher symbolisches Amt. Doch Erdogan will es so verändern, dass er künftig noch mehr Kontrolle über das Land hat.

Mittagsjournal, 09.08.2014

Erdogans Umgang mit Widerspruch

Wenn Recep Tayyip Erdogan eines nicht verträgt, dann ist das Widerspruch. Noch dazu wenn er von einer Frau kommt. Entsprechend heftig ist er im Wahlkampffinale auf eine kritische Journalistin losgegangen. Die hatte es gewagt, in einer Fernsehsendung die islamische Gesellschaft als obrigkeitshörig zu bezeichnen: "Da ist so eine schamlose Frau aufgetreten, die als Journalistin getarnt war. Eine Frau, die ihre Grenzen nicht kennt. Irgendjemand hat Dir einen Bleistift in die Hand gedrückt, damit Du in einer Zeitung schreibst. Und jetzt nimmst Du Dir heraus, ein Land zu beleidigen, das zu 99 Prozent aus Muslimen besteht?"

Frauen und Kurden wahlentscheidend

Zwei Fliegen mit einem Schlag: Journalisten werden weiter eingeschüchtert, und Frauen deutlich an ihren Platz beim Herd verwiesen. Trotzdem kann Erdogan weiterhin auf besonders viele weibliche Stimmen zählen. So werden zwei Gruppen die morgige Präsidentenwahlen entscheiden: Frauen und Kurden. Etwa 15 Millionen Kurden leben in der Türkei. Damit ist jeder fünfte Türke eigentlich Kurde. Eine Gruppe, die in den letzten zwei Jahren deutlich an Selbstbewusstsein gewonnen hat. Von ihnen könnte es also abhängen, ob es Erdogan gelingt, jene ominösen 50 Prozent zu bekommen, die er braucht, um im ersten Wahlgang gewählt zu werden.

Demirtas spricht moderne Türken an

Aus den Reihen der Kurden kommt der jüngste und in vieler Hinsicht attraktivste der 3 Präsidentschaftskandidaten, Selahattin Demirtas. Ob er auch konservative und religiöse Kurden überzeugen kann, wird sich zeigen. Viele von ihnen haben bisher Erdogan gewählt. Dafür spricht Demirtas auch liberale und moderne Türken in den Großstädten an, Bürgerrechtsgruppen und Feministinnen. Gegen Demirtas spricht aus der Sicht vieler Türken, dass seine Partei aus der kurdischen Untergrundbewegung PKK hervorgegangen ist. Und die wird in der Türkei - wie in Europa - immer noch als Terrororganisation eingestuft.

Ihsanoglu plädiert für Versöhnung

Wer keinen Kurden wählen will, aber auch Erdogan nicht weiter stärken möchte, dem bleibt nur der Diplomat Ekmelettin Ihsanoglu, der älteste der 3 Kandidaten. Er drückt sich gewählt aus, vermeidet jede Aggression und plädiert für Versöhnung statt Polarisierung. Die Präsidentschaft will er so wie bisher als symbolisches Amt ansehen, und nicht als unumschränkte Machtzentrale, so wie Erdogan das anstrebt.

Gegner haben sich mit Sieg Erdogans abgefunden

Eigentlich müsste sich Erdogan diese Wahl gar nicht antun. Mit einem Federstrich könnte er die Statuten seiner Partei ändern und nächstes Jahr noch ein viertes Mal als Regierungschef kandidieren. Doch Erdogan braucht offenbar die ständige Konfrontation, und dieser Wahlkampf gibt ihm die Gelegenheit dazu. Und der Umbau des Staates, den eigentlich außer ihm niemand versteht, gibt Erdogan auch jenes Image, das ein Führer wie er braucht: Immer in Bewegung zu sein, immer Tabus zu brechen, immer den Anderen einen Schritt voraus. Viele Erdogan-Gegner haben sich bereits mit seinem Sieg abgefunden. Einige knüpfen daran auch eine kleine Hoffnung: Wenn Erdogan das Amt wechselt und die Führung seiner Partei abgeben muss, könnte das zur allmählichen Auflösung der AKP führen, und irgendwann auch seinen Abstieg beschleunigen. Bis dahin müssen seine Kritiker eben den Kopf einziehen.