Was Kinder zu Schlägern macht

Faszination Gewalt

Der Reiz des Bösen, des Verbotenen zieht viele in ihren Bann. Doch was macht Jugendliche zu Straftätern? Mit dieser Frage befassen sich die beiden Schweizer Psychiater Josef Sachs und Volker Schmidt in ihrem akribisch recherchiertem Buch "Faszination Gewalt. Was Kinder zu Schlägern macht".

Die Autoren können aus ihren jahrelangen Erfahrungen mit straffälligen Jugendlichen und jungen Erwachsenen schöpfen und ergänzen diese mit Daten aus der Schweiz, Deutschland und Österreich.

Oft unauffällig

Eric und Davis sind zwei durchschnittliche Jugendliche im Alter von 17 und 18 Jahren. Sie gelten als unauffällig. Am 20. April 1999 tauchen sie mit Maschinenpistolen und Gewehren in der Hand in der Schulmensa auf. Sie erschießen zwölf Schüler, einen Lehrer und richten sich anschließend selbst. Der Amoklauf an der Columbine Highschool in der amerikanischen Kleinstadt Littleton in Colorado erschütterte die gesamte Welt.

Wenig beachtet wird alltägliche Gewalt

Verbrechen wie diese, aber auch Gruppenvergewaltigungen und erbarmungslose Brutalität gegen wehrlose Opfer prägen das Bild der sogenannten Jugendgewalt in den Köpfen der Gesellschaft und sind für die Politik oft handlungsbestimmend - und das, obwohl es sich laut den beiden Autoren in der Regel um seltene Ereignisse handelt. Viel zu wenig wird der Blick auf die alltägliche Gewalt unter Jugendlichen gelenkt, auf Cybermobbing oder Schlägereien vor der Diskothek. Handgreiflichkeiten nehmen zwar laut Statistik tendenziell ab, werden aber immer brutaler. Doch woher kommt diese Gewaltbereitschaft?

Es beginnt in der Familie

Nach wie vor gilt: Die Familie ist weiterhin die erste und wichtigste soziale Instanz gegen die Faszination Gewalt. Ist die Bindung zwischen Eltern und Kind intakt, so fühlt sich das Kind sicher, ist weniger feindselig und kann seine Impulse besser kontrollieren. Bei einer gestörten Beziehung, wird das Kind beispielsweise misshandelt oder vernachlässigt, neigt es eher zu Gewaltfantasien und einem aggressiven Verhalten, schreiben die Autoren:

Aggressive Eltern als Vorbild

Eltern, die leicht reizbar sind, drohen oder sogar handgreiflich werden, liefern ihren Kindern oft selbst ein Modell für aggressives Verhalten. Emotionen und die eigenen Bedürfnisse werden in solchen Fällen von den Kindern verleugnet, Wut und Ärger unterdrückt. Ein Konzept, wie man mit negativen Gefühlen umgeht, fehlt. Diese Spannung von aufgestauten Emotionen auf der einen Seite und vorgelebter Aggression auf der anderen Seite kann sich dann ganz plötzlich entladen, wie ein Fallbeispiel im Buch verdeutlicht:

Fabian ist 15 Jahre alt. Die psychisch kranke Mutter und der impulsiv-aggressive Vater zwingen Fabian unter Androhung von Strafe ihre Vorstellungen auf. Ständig hat der Junge das Gefühl, nicht zu genügen. Pascal, ein Freund und Schulkamerad, ist in vielen Dingen erfolgreicher als Fabian. Fabian ist neidisch und wütend, kann sich aber seine Gefühle nicht eingestehen. An einem Vormittag in der Schule stößt er seinem Freund ein Küchenmesser in den Hals. Pascal überlebt nur knapp. Diese Szene hat Fabian bereits Wochen zuvor in seiner Fantasie durchgespielt.

Suche nach Zugehörigkeit

Weitere Risikofaktoren für Gewalt bei Kindern und Jugendlichen sind zudem Armut, schlechte Wohnverhältnisse und soziale Benachteiligung. Während der Pubertät nimmt der Einfluss der Eltern ab. Sogenannte Peergroups erlangen eine größere Präsenz.

Hier lernen sie, dass Gewalt legitim ist, um sich durchzusetzen. Dadurch erlangen sie bei ihren Freunden Respekt und Anerkennung - und genau danach sehnen sich die meisten Jugendlichen.

Gewalt beginnt im Kopf

In ihrem Buch diskutieren die Psychiater Josef Sachs und Volker Schmidt auch die Auswirkungen von gewalttätigen Computerspielen und Fernsehinhalten und kommen zu dem Schluss: Gewaltdarstellungen in den Medien machen niemanden automatisch zum Schläger, doch können die Inhalte aggressives Verhalten fördern. Vor allem wenn der Täter sympathisch wirkt, für sein Handeln nicht bestraft, oder sogar belohnt wird. Denn Gewalt, so das Fazit der Autoren, beginnt im Kopf.

Plädoyer für mutige Erziehung

Mit diesen Informationen werden die Leser nicht alleine gelassen. Im anschließenden Kapitel werden Dutzende Handlungsmöglichkeiten aufgezählt wie man der Gewalt einen Riegel vorschieben kann. Darunter die 3-6-9-12-Faustregel zur Mediennutzung: Kein Bildschirm unter drei Jahren, keine eigene Spielkonsole vor sechs, kein Internet vor neun und kein unbeaufsichtigtes Internet vor zwölf Jahren.

Die Autoren plädieren für mehr Mut zur Erziehung. Dabei sollte man nicht zu streng, aber auch nicht zu weich vorgehen - der Mittelweg scheint hier der richtige. Klare Regeln, die konsequent eingehalten werden, sind eine Voraussetzung.

Ausdrucksfähigkeit fördern

Sie raten auch dazu, Kinder so früh wie möglich sprachlich zu fördern - denn wer sich schlecht ausdrücken kann, schlägt oftmals schneller zu. Doch nicht nur die Eltern, auch die Schule ist gefragt. PISA hin oder her: Fächer wie Sport, Kunst und Musik dürften in unserer leistungsorientierten Gesellschaft nicht untergehen- schließlich sind sie für die soziale und kognitive Entwicklung ebenso wichtig wie Mathematik, Biologie oder Chemie.

Das Buch "Faszination Gewalt" ist insgesamt spannend und gut verständlich geschrieben. Mit den Dutzenden Fallbeispielen bringen die Autoren Leben in die graue Theorie und bieten konkrete Hilfestellung.

Service

Josef Sachs und Volker Schmidt, "Faszination Gewalt. Was Kinder zu Schlägern macht", Orell Füssli Verlag