Roman von Olga Grjasnowa
Die juristische Unschärfe einer Ehe
In ihrem zweiter Roman "Die juristische Unschärfe einer Ehe" erzählt die junge Schriftstellerin Olga Grjasnowa von einer unkonventionellen Liebe zwischen Berlin, Moskau und ihrem Herkunftsland Aserbaidschan.
8. April 2017, 21:58
Olga Grjasnowa, 29, hat gewiss schon einiges an Lebenserfahrung gesammelt, als russisch-jüdisches Auswandererkind, das mit elf nach Deutschland übersiedelt ist, als Schriftstellerin und studierte Tanzwissenschafterin. Olga Grjasnowa wird wissen, wovon sie schreibt:
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Man braucht nicht auf die Midlife-Crisis zu warten, man kann sein Leben auch schon mit Mitte zwanzig wunderbar gegen die Wand fahren.
Macht der Amphetamine
Und das tun die Protagonisten von Grjasnowas zweitem Roman mit Verve und spätadoleszenter Kompromisslosigkeit. Jonoun zum Beispiel: Die uneheliche Tochter einer israelischen Hippie-Mum lässt sich als kiffende und koksende Medienkünstlerin durch das Boheme-Berlin der 2010er-Jahre treiben. Jonoun versucht sich in Performances, die von ihren Freunden als nuttig, von ihr selbst jedoch als feministisch bezeichnet werden. Zwischen In-Clubs wie dem "Berghain" und dem guten alten SO36 erprobt die junge Frau die rasch verblassende Attraktionskraft wechselnder Liebhaber und die unbezwingbare Macht der Amphetamine:
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Maik bot ihr MDMA an, Jonoun griff zu und tanzte, durchgerüttelt von wahren Glücksschauern vergaß sie alles, nur nicht zu tanzen. Zwischen Beleuchtung und Musik herrschte vollkommene C11H15NO2-Harmonie. Jonoun hatte das Gefühl, mit dem Raum zu verschmelzen. Irgendwann ging sie mit Maik nach Hause, in seinem spärlich möblierten Wohnzimmer nahmen sie Ketamine, dann saßen sie engumschlungen im Taxi, seine Zunge leckte Jonouns Ohr, und schon stand sie wieder auf der Tanzfläche, der Körper ganz und gar auf die Musik ausgerichtet. Sie tanzten und schworen sich runterzukommen, aber in Jonouns Zimmer gab es noch mehr, also fuhren sie hin, hatten schnellen, mechanischen Sex und waren hinterher so verlegen, dass sie wieder in einen Club gingen.
In einer Kreuzberger Bar, so will es Olga Grjasnowa, lernt die labile Jonoun eine junge Frau kennen, die von ihrer Wesensart, ihrer ganzen Biographie her das genaue Gegenteil von ihr zu sein scheint. Leyla heißt die Schöne, als Tochter georgisch-russisch-aserbeidschanischer Eltern hat die disziplinierte junge Frau einst am Bolschoi-Theater Ballett studiert - jetzt lebt sie, eine Adeptin der lesbischen Liebe, zusammen mit dem schwulen russischen Psychiater Altay in Berlin.
Zweckehe von Altay und Leyla
Altay und Leyla sind miteinander verheiratet, eine Zweckehe, die sich im Lauf der Zeit zu einer zärtlichen, vertrauensvollen Beziehung gewandelt hat, einer Beziehung, in der auch Eifersucht ihren Platz hat. Als Jonoun und die schöne Leyla in lodernder Leidenschaft zueinander entbrennen, wird Altay mit den Qualen des Eifersüchtigseins konfrontiert, erst recht, als die berückende, aber schlampige Jonoun in der ehelichen Wohnung Quartier nimmt.
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Schon am nächsten Tag zog Jonoun ein und mit ihr das Chaos. Sie ließ überall ihre Sachen liegen, im besten Fall waren es ihre Kleidungsstücke, im Schlimmsten Kerngehäuse von Äpfeln, die Altay Tage später irgendwo fand. Wenn Altay den Fußboden gewischt hatte, konnte er sich sicher sein, dass Jonoun im nächsten Augenblick mit schlammverkrusteten Stiefeln auftauchen würde. Sie zertrümmerte sein Porzellan. Sie kaufte schlechten Wein und billigen Käse. Sie schenkte Altay einen Band über das Altai-Gebirge, welchen er gut sichtbar neben der Toilettenschüssel deponierte. Doch das Schlimmste war, dass sie Leyla liebte, und das konnte Altay nicht zulassen.
Porträt des Berliner Kreativ-Milieus
Eine brisante Dreiecks-Liaison nimmt ihren Anfang, was Olga Grjasnowa mit feinem Gespür für erotisch-explosive Gruppendynamiken beschreibt. Grjasnowas Roman ist, zumindest im ersten Teil, ein atmosphärisch dichtes Porträt des teilprekarisierten Berliner Kreativen-Milieus - eines Milieus, das von gelebtem Multikulturalismus geprägt ist:
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Berlin war eine Stadt des Exils, alle kamen hierher - die von der deutschen Peripherie Verschmähten, die Pariser, die sich ihre Stadt nicht mehr leisten konnten, die Israelis, die ihren Staat nicht mehr ertrugen, Italiener, Skandinavier, Griechen, Spanier, Amerikaner - nur Arme, Flüchtlinge und Asylanten sollten Europa nicht betreten.
Flucht nach Baku
Subtil eingestreute Zynismen wie diese belegen: Olga Grjasnowa ist eine sympathisch abgefeimte Autorin. Wie Grjasnowa die fiebrige, gehetzte, gediegen melancholische Atmosphäre einfängt, in der sich ihre quarterlife-crisis-gebeutelte Personnage bewegt, verdient Bewunderung. So richtig Fahrt nimmt die Handlung auf, als Leyla, die unglückliche Ballerina, Berlin verlässt und vor dem quälenden Liebes-Tohuwabohu in ihre Vaterstadt Baku flieht. Als Jonoun und Altai ihr in die von Korruption und moralischer Dekadenz zerfressene Erdöl-Metropole am Kaspischen Meer folgen, gewinnt die queere Libertinage noch einmal an kaukasischem Drive.
Es sind drei Wurzellose, die in Olga Grjasnowas Roman nach Liebe, Nähe, Zärtlichkeit und, ja, nach Geborgenheit suchen. Wie Grjasnowa die Melancholie und den verzweifelten Lebenshunger einer neuen, zwischen individuellem Aufbruchsgefühl und sozialer Prekarisierung eingezwängten "Lost Generation" beschreibt, das sucht in der neueren deutschsprachigen Literatur seinesgleichen.
Service
Olga Grjasnowa, "Die juristische Unschärfe einer Ehe", Hanser-Verlag, München