Über die dunkle Seite der Antike
Gewalt
Mehr als tausend Jahre Geschichte lässt Martin Zimmermann Revue passieren. Er erklärt, warum man antike Schilderungen von Gewalt nicht als "Zeugnisse realer Gewalt" lesen darf, und zeigt, wie diese Gewaltdarstellungen auf vorgeprägte Muster, Motive und Topoi zurückgreifen.
8. April 2017, 21:58
Antike Herrscher kannten keine Gnade - und entwickelten eine offenbar barbarische Phantasie, wenn es ums Foltern und Hinrichten ging. Phalaris zum Beispiel, im 6. Jahrhundert v. Chr. Regent in Akragas auf Sizilien, habe sich einen bronzenen Stier anfertigen lassen, der auf der Oberseite eine Klappe hatte. Durch diese wurden Phalaris' Gegner befördert, während man unter dem Stier ein Feuer entfachte. Das Gebrüll der Sterbenden, das aus dem Inneren des bronzenen Ungetüms drang, soll der Tyrann wie Musik genossen haben.
Agathokles, der um 300 v. Chr. auf Syrakus herrschte und Unbotmäßigen die Fußknöchel zerquetscht und Frauen die Brüste abgeschnitten hatte, ließ ein Eisenbett bauen, auf dem Delinquenten gegrillt worden seien. Nabis wiederum, Herrscher in Sparta, erfand die eiserne Jungfrau, eine Art Roboter mit Dornen, dessen Umarmung tödlich war. Und Kaiser Caligula soll Widersacher mit einer Eisenkette ausgepeitscht, in Käfige gesperrt und später zersägt haben lassen. Grausamkeiten, wie sie durch Diodorus Siculus, Polybios oder die "Kaiserviten" von Sueton überliefert sind. Aber sind sie auch wahr überliefert? Sind Gräuelgeschichten wie diese glaubwürdig und authentisch?
Zitat
Man kann die Glaubwürdigkeit in einem ersten Schritt schon prüfen, indem man sich die Gewaltepisode anschaut und überlegt, ob das pathologisch-medizinisch überhaupt möglich ist. Also wenn zum Beispiel berichtet wird, dass ein Sklave oder ein Freigelassener gezwungen wird, sich Fleisch von den eigenen Armen abzuschneiden, das zu grillen und das dann zu essen, dann ist das medizinisch eigentlich unmöglich, weil man keinen Menschen dazu zwingt, so etwas zu tun. Weil die entsetzlichen Schmerzen, die damit verbunden sind, das komplett ausschließen, dass man dann sein eigenes Fleisch noch grillt und isst.
Und solche Partien gibt es immer wieder, und wenn man die dann kombiniert mit anderen, die ähnlich grausame Dinge berichten, kommt man sehr schnell dahinter, dass das Bilder sind, die entworfen worden sind, um uns etwas zu erzählen - aber etwas ganz anderes zu erzählen, das mit diesen Gewaltbildern gar nichts zu tun hat.
Gräuel als literarische Gestaltungskraft
Die Antike, sie war eine gewalttätige Zeit - mit blutigen Massakern, entsetzlichen Kriegen und zahllosen Hinrichtungen, sagt der Althistoriker Martin Zimmermann. Und doch dürfe man überlieferte Gewaltdarstellungen nicht für bare Münze halten. Nicht selten sind es Fiktionen, nicht Fakten. Entsprungen der Phantasie der Autoren, folgten sie einem ganz bestimmten moralisch-politischen Kalkül und hatten mit der Alltagsgewalt und dem tatsächlichen Despotismus der Tyrannen oft wenig zu tun.
Zitat
Wenn Sie in einer Welt leben, die geprägt ist durch entsetzliche Formen der Hinrichtung, wie z.B. die Kreuzigung, und sie wollen dann berichten, dass ein Herrscher ganz brutal tötet, dann brauchen sie andere Bilder, um die Brutalität vor Augen zu führen. Und die antiken Zeitgenossen wussten genauso wie wir heute, dass gerade dramatische Gewaltbilder den Leser richtig fesseln und vereinnahmen für die eigene politische Position, die man vertritt und durchsetzen möchte.
Auf vierhundert flott geschriebenen, spannend zu lesenden und fußnotenfreien Seiten lässt Zimmermann mehr als tausend Jahre Geschichte Revue passieren - von den brutalen Königen im Alten Orient bis zu den Gewaltberichten der Spätantike, vom Gilgamesch-Epos bis zum christlichen Dichter Prudentius. Er erklärt, warum man antike Schilderungen von Gewalt nicht als "Zeugnisse realer Gewalt" lesen darf, und zeigt, wie diese Gewaltdarstellungen auf vorgeprägte Muster, Motive und Topoi zurückgreifen.
Immer wieder hat man Delinquenten gegrillt, Eingeweide herausgerissen, Pfählungen und Verwesungsgerüche geschildert.
Zitat
Man muss im Grunde genommen sich durch die gesamte Literatur durcharbeiten, um wirklich zuverlässig einzelne Motive als Belege für Wahrheit erkennen zu können. Erst wenn man zumindest mit Blick auf Gewalt die gesamten Stellen gesammelt hat, fällt einem auf, dass es Wandermotive gibt, dass bestimmte Dinge immer wieder in dieser Form erzählt werden, so dass man daraus auch schließen kann, dass in dieser Situation es möglicherweise so gar nicht stattgefunden hat, sondern nur ein beliebtes Motiv genommen wird, um das zu erzählen.
Autoren meist Politiker
"Grausige Unterstellungen, gefälschte Berichte und erfundene Gräuel, Horrorszenarien, explizit und detailverliebt wie in heutigen Splattermovies, sollten erschrecken, auf die Seite der Betrachtenden ziehen und den Weg zum vermeintlich Guten weisen", schreibt Zimmermann. Sie sollten den politischen Gegner diffamieren und dem idealen Herrscher das Bild einer Tyrannenfratze gegenüberstellen.
Dass Objektivität und Unvoreingenommenheit nicht wirklich zu erwarten waren, macht schon die Tatsache deutlich, dass die meisten Autoren Politiker waren - und politische Interessen verfolgten. Zugleich aber wollten sie den Leser unterhalten, Nervenkitzel bieten und ihm mit ihrer Erzählkunst imponieren. Und der Leser, der in der Schule Rhetorikunterricht erhalten hatte, wusste, worauf er sich einließ: auf einen literarischen Wettbewerb, bei dem Drastik, Übertreibung und Ausschmückung als Stilmittel legitim waren.
Zitat
Man kann beobachten bei den antiken Autoren, dass ein regelrechtes gegenseitiges Überbieten in grausamen Bildern zu beobachten ist und auch ein Spiel mit diesen Bildern. Es gibt dann so Hinweise wie z.B. die Formulierung, "so etwas Grausames hat es vorher noch nicht gegeben". Das ist keine Anspielung auf den Herrscher, sondern auf die literarische Gestaltungskraft des Autors, die er hervorheben möchte.
Und man kann auch feststellen, z.B. in der spätantiken Historia Augusta, dass es einen regelrechten Spaß an solchen Geschichten gibt, dass absurde Geschichten erfunden wurden wie z.B. die, dass der Kaiser Commodus, der am Ende des 2. Jahrhunderts n.Chr. regiert hat, sich bucklige Krüppel mit Senf bestrichen als Hauptmahlzeit hat servieren lassen.
Das sind Geschichten, wo man als moderner Leser erst mal erschreckt und sagt, das gibt es doch gar nicht, sind die alle verrückt gewesen in der Antike? Der antike Leser hat gedacht, ach toll, das ist doch mal eine Geschichte, die haben wir bisher noch nicht gelesen, das ist doch jetzt witzig.
Lässt sich die Gewalt im antiken Alltag nachzeichnen und erschließen nur mit Hilfe von Grabsteinen, Fluchtafeln, Orakelanfragen und Papyri, so haben Historiografie und Dichtung vor allem die Gewalt "auf der Ebene der Politik und Herrschaftsausübung" zum Thema - die Gewalt gegenüber Untergebenen, Widersachern oder Fremden, gegenüber äußeren und inneren Feinden, nicht aber die Gewalt im Alltag.
Die antike Geschichtsschreibung ist in erster Linie Kriegsgeschichtsschreibung, sagt Zimmermann, eine "zuverlässige Rekonstruktion antiker Gewalt" darf man von ihr nicht erwarten. Für eine solche gebe es "kein wirklich belastbares Material". Selbst Herodot, der Vater der Geschichtsschreibung, vermengte Fakten mit Mythen. Und Polybios, eigentlich ein Befürworter der historisch-sachlichen Darstellung, erfand Foltern wie die eiserne Jungfrau.
Zitat
Was bis heute der Fall ist, ist, dass man aus dieser literarischen Tradition oder aus diesem kulturellen Gedächtnis der Antike gelernt hat, dass explizite Gewaltbilder sehr gut taugen, um bestimmte politische Interessen zu verfolgen und durchzusetzen. Und das bedeutet, dass wir bis heute immer, wenn wir in Zeitungen, Fernsehberichten oder sonst wo mit explizierter Gewalt konfrontiert sind, ganz genau hinschauen müssen. Was zeigt man uns da eigentlich, was will man uns da vergegenwärtigen und ist das überhaupt ein Faktum, das uns als Fakt da präsentiert wird?
"Von Beginn an nutzte man in den antiken Gesellschaften Texte ganz unterschiedlicher Art, um sich über Gewalt und ihre Kontrolle zu verständigen", schreibt Zimmermann. Die Schilderungen von Grausamkeiten dienten dazu, "sich allgemein über Regeln des Zusammenlebens zu verständigen" und eine Gemeinschaft nach außen hin abzugrenzen. Sie lieferten keinen Aufschluss über die tatsächliche Aggressivität und Brutalität, sondern, so der Autor, "einen Hinweis auf den Grad der fortgeschrittenen Gemeinschaftsbildung" in antiker Zeit.
Zitat
Was man eben versuchte einzuschärfen mit diesem Gewaltgeschichten ist z.B. auch im innergesellschaftlichen Bereich: Was ist gute Gewalt, was ist schlechte Gewalt? Wann ist Gewalt transgressiv, wann überschreitet sie Grenzen, die die Gesellschaft sich selbst gesetzt hat, bei Gewaltausübung? Wann übt jemand Gewalt aus, der das in dieser Form nicht machen darf? Man hat mit solchen Geschichten versucht, der eigenen Gemeinschaft und den eigenen Rechtssetzungen gewissermaßen Kontur zu geben. Und man hat mit diesen Gewaltdarstellungen auch versucht zu zeigen, wer gehört zu dieser Gemeinschaft und wer gehört nicht zu dieser Gemeinschaft, die sich über Gewalt verständigt.
Martin Zimmermann hat schon vor vielen Jahren begonnen, literarische "Schreckensbilder systematisch zu sammeln". In seinem Buch über "Die dunkle Seite der Antike" hat er sie ausgewertet und "die hinter den Erzählungen stehenden Absichten zu verstehen" versucht - und nicht einfach eine Nacherzählung grausamer Anekdoten geliefert, sondern eine Analyse antiker Kommunikation über Gewalt. Herausgekommen ist ein überzeugendes, ein klares und sehr anschauliches Buch, das nicht nur die Althistoriker angeht. Zeigt es doch, dass schon in der Antike Gewaltbilder manipuliert und instrumentalisiert wurden - und nicht erst heute die Frage ihrer Echtheit oder Authentizität größte Verunsicherung auslöst. Und so kann man sich dem Wissenschaftler nur anschließen, wenn er resümiert: "Jede Erzählung über Gewaltexzesse ist per se verdächtig".
Service
Martin Zimmermann, "Gewalt. Die dunkle Seite der Antike", Deutsche Verlags-Anstalt