Über die dunkle Seite der Antike

Gewalt

Mehr als tausend Jahre Geschichte lässt Martin Zimmermann Revue passieren. Er erklärt, warum man antike Schilderungen von Gewalt nicht als "Zeugnisse realer Gewalt" lesen darf, und zeigt, wie diese Gewaltdarstellungen auf vorgeprägte Muster, Motive und Topoi zurückgreifen.

Antike Herrscher kannten keine Gnade - und entwickelten eine offenbar barbarische Phantasie, wenn es ums Foltern und Hinrichten ging. Phalaris zum Beispiel, im 6. Jahrhundert v. Chr. Regent in Akragas auf Sizilien, habe sich einen bronzenen Stier anfertigen lassen, der auf der Oberseite eine Klappe hatte. Durch diese wurden Phalaris' Gegner befördert, während man unter dem Stier ein Feuer entfachte. Das Gebrüll der Sterbenden, das aus dem Inneren des bronzenen Ungetüms drang, soll der Tyrann wie Musik genossen haben.

Agathokles, der um 300 v. Chr. auf Syrakus herrschte und Unbotmäßigen die Fußknöchel zerquetscht und Frauen die Brüste abgeschnitten hatte, ließ ein Eisenbett bauen, auf dem Delinquenten gegrillt worden seien. Nabis wiederum, Herrscher in Sparta, erfand die eiserne Jungfrau, eine Art Roboter mit Dornen, dessen Umarmung tödlich war. Und Kaiser Caligula soll Widersacher mit einer Eisenkette ausgepeitscht, in Käfige gesperrt und später zersägt haben lassen. Grausamkeiten, wie sie durch Diodorus Siculus, Polybios oder die "Kaiserviten" von Sueton überliefert sind. Aber sind sie auch wahr überliefert? Sind Gräuelgeschichten wie diese glaubwürdig und authentisch?

Gräuel als literarische Gestaltungskraft

Die Antike, sie war eine gewalttätige Zeit - mit blutigen Massakern, entsetzlichen Kriegen und zahllosen Hinrichtungen, sagt der Althistoriker Martin Zimmermann. Und doch dürfe man überlieferte Gewaltdarstellungen nicht für bare Münze halten. Nicht selten sind es Fiktionen, nicht Fakten. Entsprungen der Phantasie der Autoren, folgten sie einem ganz bestimmten moralisch-politischen Kalkül und hatten mit der Alltagsgewalt und dem tatsächlichen Despotismus der Tyrannen oft wenig zu tun.

Auf vierhundert flott geschriebenen, spannend zu lesenden und fußnotenfreien Seiten lässt Zimmermann mehr als tausend Jahre Geschichte Revue passieren - von den brutalen Königen im Alten Orient bis zu den Gewaltberichten der Spätantike, vom Gilgamesch-Epos bis zum christlichen Dichter Prudentius. Er erklärt, warum man antike Schilderungen von Gewalt nicht als "Zeugnisse realer Gewalt" lesen darf, und zeigt, wie diese Gewaltdarstellungen auf vorgeprägte Muster, Motive und Topoi zurückgreifen.

Immer wieder hat man Delinquenten gegrillt, Eingeweide herausgerissen, Pfählungen und Verwesungsgerüche geschildert.

Autoren meist Politiker

"Grausige Unterstellungen, gefälschte Berichte und erfundene Gräuel, Horrorszenarien, explizit und detailverliebt wie in heutigen Splattermovies, sollten erschrecken, auf die Seite der Betrachtenden ziehen und den Weg zum vermeintlich Guten weisen", schreibt Zimmermann. Sie sollten den politischen Gegner diffamieren und dem idealen Herrscher das Bild einer Tyrannenfratze gegenüberstellen.

Dass Objektivität und Unvoreingenommenheit nicht wirklich zu erwarten waren, macht schon die Tatsache deutlich, dass die meisten Autoren Politiker waren - und politische Interessen verfolgten. Zugleich aber wollten sie den Leser unterhalten, Nervenkitzel bieten und ihm mit ihrer Erzählkunst imponieren. Und der Leser, der in der Schule Rhetorikunterricht erhalten hatte, wusste, worauf er sich einließ: auf einen literarischen Wettbewerb, bei dem Drastik, Übertreibung und Ausschmückung als Stilmittel legitim waren.

Lässt sich die Gewalt im antiken Alltag nachzeichnen und erschließen nur mit Hilfe von Grabsteinen, Fluchtafeln, Orakelanfragen und Papyri, so haben Historiografie und Dichtung vor allem die Gewalt "auf der Ebene der Politik und Herrschaftsausübung" zum Thema - die Gewalt gegenüber Untergebenen, Widersachern oder Fremden, gegenüber äußeren und inneren Feinden, nicht aber die Gewalt im Alltag.

Die antike Geschichtsschreibung ist in erster Linie Kriegsgeschichtsschreibung, sagt Zimmermann, eine "zuverlässige Rekonstruktion antiker Gewalt" darf man von ihr nicht erwarten. Für eine solche gebe es "kein wirklich belastbares Material". Selbst Herodot, der Vater der Geschichtsschreibung, vermengte Fakten mit Mythen. Und Polybios, eigentlich ein Befürworter der historisch-sachlichen Darstellung, erfand Foltern wie die eiserne Jungfrau.

"Von Beginn an nutzte man in den antiken Gesellschaften Texte ganz unterschiedlicher Art, um sich über Gewalt und ihre Kontrolle zu verständigen", schreibt Zimmermann. Die Schilderungen von Grausamkeiten dienten dazu, "sich allgemein über Regeln des Zusammenlebens zu verständigen" und eine Gemeinschaft nach außen hin abzugrenzen. Sie lieferten keinen Aufschluss über die tatsächliche Aggressivität und Brutalität, sondern, so der Autor, "einen Hinweis auf den Grad der fortgeschrittenen Gemeinschaftsbildung" in antiker Zeit.

Martin Zimmermann hat schon vor vielen Jahren begonnen, literarische "Schreckensbilder systematisch zu sammeln". In seinem Buch über "Die dunkle Seite der Antike" hat er sie ausgewertet und "die hinter den Erzählungen stehenden Absichten zu verstehen" versucht - und nicht einfach eine Nacherzählung grausamer Anekdoten geliefert, sondern eine Analyse antiker Kommunikation über Gewalt. Herausgekommen ist ein überzeugendes, ein klares und sehr anschauliches Buch, das nicht nur die Althistoriker angeht. Zeigt es doch, dass schon in der Antike Gewaltbilder manipuliert und instrumentalisiert wurden - und nicht erst heute die Frage ihrer Echtheit oder Authentizität größte Verunsicherung auslöst. Und so kann man sich dem Wissenschaftler nur anschließen, wenn er resümiert: "Jede Erzählung über Gewaltexzesse ist per se verdächtig".

Service

Martin Zimmermann, "Gewalt. Die dunkle Seite der Antike", Deutsche Verlags-Anstalt