Literatur im Herbst schaut gen Norden

Nach Norden schaut heuer das Festival Literatur im Herbst. Wo beginnt der Norden, wo endet er, was zeichnet ihn aus, und wer darf darüber verfügen? Antworten darauf suchen in den kommenden Tagen im Wiener Odeon rund 20 Autorinnen und Autoren aus Skandinavien, Island, Litauen und vor allem aus Russland - in Lyrik, Prosa und Werkstattgesprächen.

"Norden" - das ist eine Himmelsrichtung, eine Region oder auch eine Metapher. Dem Norden will sich jetzt das Festival Literatur im Herbst nähern - und zwar nicht geografisch, sondern thematisch, sagt der Literaturkritiker, Übersetzer und Kurator der Veranstaltung Erich Klein. Ausgehend von Paul Celans "In den Flüssen nördlich der Zukunft".

Morgenjournal, 7.11.2014

Vladimir Sorokin, Jelena Fanajlowa u.a.

Es ist eine illustre Schar, die sich da in Wien versammelt: vom großen russischen Romancier Vladimir Sorokin über den Drehbuchautor Denis Osokin, der das Buch zu dem preisgekrönten Film "Stille Seelen" schrieb, bis zu Jelena Fanajlowa. Sie ist nicht nur eine der prominentesten Lyrikerinnen Russlands, sondern auch eine engagierte regimekritische Journalistin. Aus dem russischen Norden schickt sie ein "Sendschreiben in den Süden" - so der Titel eines Gedichtes über die Ukraine.

Botschaft an die Ukraine

"Früher sagte man immer, die Ereignisse kommen in Kiew mit drei bis sechsjähriger Verspätung an, man hatte das Gefühl, dass die Ukraine in fast allen Bereichen hinter Russland war, heute ist das genau umgekehrt", sagt Fanajlowa. "Jahrzehntelang hat Russland auf eine Modernisierung hingearbeitet und es jetzt ist es die Ukraine, die einen Sprung nach vorne macht. Das Blutvergießen im Osten der Ukraine ist ein Konflikt zwischen der Moderne und dem Archaischen."

"Mein Land bringt dich um"

"Wir sind vom selben Stamm, eine Familie, Bruder gegen Bruder, Schwester gegen Schwester", schreibt Jelena Fanajlowa in ihrem "Sendschreiben in den Süden". Es sind Texte von großer poetischer Kraft, die sie der Ukraine gewidmet hat und ihren Kollegen dort, wie Serhij Zhadan, den sie ins Russische übersetzt hat. Serhij Zhadan, der im März bei den Demonstrationen in Charkiw schwer verletzt wurde. Daraus eine Gedichtzeile: "Dich bringt dieses Land um - meines."

Moralische Autorität der Dichter

"In Russland gibt es wieder vermehrt politische Lyrik und diese Gedichte leuchten das ganze politische Spektrum aus - vom Putin-begeisterten Patrioten bis zum Regimegegner", erklärt Fanajlowa. "Lyrik hat eine große Aufmerksamkeit, vor allem bei den Jungen. Der Dichter ist wieder eine moralische Autorität."

Dialog mit Machthabern unmöglich

Für Russland sieht Jelena Fanajlowa zwei Zukunftsszenarios: "... ein schlechtes und ein etwas weniger schlechtes. Das schlechte ist, dass die russische Wirtschaft zusammenbricht und es dadurch zu einer politischen Veränderung kommt. Das weniger schlechte Szenario ist, dass alles beim Alten bleibt, das heißt, dass sich in Russland in den nächsten zehn, 20 Jahren nichts mehr entwickelt, ein totaler Stillstand."

Auf Russland können die Maidan-Proteste nicht übertragen werden, meint Jelena Fanajlowa. Hier gebe es nicht einmal Anzeichen dafür, dass ein Dialog zwischen der Zivilgesellschaft und den Machthabenden beginnen könnte.

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