Die Ursprünge des digitalen Zeitalters

Turings Kathedrale

Zehn Jahre hat der amerikanische Wissenschaftshistoriker George Dyson für seinen Rückblick recherchiert. Spannend und kenntnisreich erzählt er in seinem Buch "Turings Kathedrale", dass die Wasserstoffbombe zum Schöpfungsmythos des Computers untrennbar dazugehört.

Für den George Dyson ist die Entstehung des digitalen Computerzeitalters eine Art Schöpfungsmythos, den er in ein Altes und ein Neues Testament unterteilt. Für das Alte Testament stehen die Werke von Gottfried Wilhelm Leibniz, der im 18. Jahrhundert das Dualsystem definierte. Das Neue Testament beginnt mit dem ungarisch-österreichischen Mathematikgenie John von Neumann.

Alan Mathison Turing - ein Pionier?

Der Sohn einer mächtigen jüdischen Bankiersfamilie aus Budapest war nach der Machtergreifung Hitlers dauerhaft in die USA emigriert und hat dort Ende 1945 mit einem Dutzend Ingenieuren den ersten speicherprogrammierten Rechner konstruiert. Die Mathematiker und Ingenieure, die am elitären Institute for Advanced Study (IAS) in Princeton gemeinsam das digitale Zeitalter begründeten, kamen vor allem aus Großbritannien, Ungarn, Deutschland, Österreich und Polen.

"In gewisser Weise war Princeton ein Paradies", erklärt George Dyson im Interview. "Das private Forschungsinstitut ist 1930 gegründet worden, neun Jahre später wurde die sogenannte Kathedrale gebaut, die Fuld Hall in Princeton und gleichzeitig begann der Ärger im Paradies, (…) denn das Militär war von Anfang an beteiligt. Schon allein deshalb, weil durch den Zweiten Weltkrieg viele brillante Wissenschaftler aus Europa vertrieben wurden, die sonst nie nach Amerika gekommen wären."

John von Neumann - Die Treibende Kraft

Die Formel zum ersten Rechner hat aber zehn Jahre zuvor als Erster bereits der britische Mathematiker Alan Mathison Turing aufgeschrieben. Turing, der im Zweiten Weltkrieg den Geheimcode Enigma der deutschen Wehrmacht geknackt hat, gilt als einer der bedeutendsten Informatik-Pioniere.

Er wird zwar heute noch von Geheimdiensten und Hackern wie ein Held verehrt, aber gebaut hat er den Computer selbst nie. Erst als der geniale Mathematiker von Neumann in Princeton anfing, mannshohe Rechner zu bauen, war "Eins und Null Code" nicht mehr nur ein theoretischer Vorgang, sondern die Befehle wurden wirklich ausgeführt.

Im Gegenzug wurden Torpedos optimiert

Der Technikhistoriker George Dyson beschreibt, dass die illustre Gruppe rund um John von Neumann vermutlich nie ein millionenschweres Forschungsbudget bewilligt bekommen hätte, wenn sie nicht auch Bomben berechnet hätten. Somit wurde die Entwicklung der heutigen Computer weitgehend vom US-Militär finanziert.

Im Gegenzug wurden mit den Rechnern nicht nur geheime Codes entschlüsselt sondern auch die Stoßwellen von Torpedos oder normalen Bomben optimiert, was im Zweiten Weltkrieg eine kriegsentscheidende Komponente für den Sieg der Alliierten war. George Dyson gilt weltweit als einer der profiliertesten Experten der Computerwissenschaft. Wie es sonst keiner kann, erzählt er über die "Ursprünge des digitalen Zeitalters", so der Untertitel des Buches.

"Seit 60 Jahren hat sich nichts geändert"

"Es ist erstaunlich, dass von Neumann und Turing damals so gut wie keine Fehler gemacht haben", sagt George Dyson und führ weiter aus: "Aber die Fehler, die sie gemacht haben, sind seit 60 Jahren dieselben geblieben. Wir sind steckengeblieben. Wenn die beiden Experten heutzutage einen modernen Computer sehen könnten, würden sie feststellen, dass er immer noch so programmiert wird, wie sie es vor 60 Jahren gemacht haben. Sie wären geschockt, vor allem von Neumann, dass sich nichts Wesentliches verändert hat."

Computerwissenschafter Dyson

George Dyson ist Sohn des Physikers Freeman Dyson, der in den 1950er Jahren jahrzehntelang am IAS gearbeitet hat. Zuletzt hat er vor zwölf Jahren ein Buch über das Orion-Projekt veröffentlicht, für das sein Vater ein atomgetriebenes Raumschiff entwickelt hatte. Das Material, das sein Sohn dafür verarbeitete, machte die NASA so neugierig, dass sie ihm knapp zweitausend Seiten in Kopie abkaufte.

Als Kind hat George nicht nur in einem der großen Computer-Schränke in Princeton gespielt, sondern durfte dort vor einigen Jahren auch als Gastwissenschaftler für sein Buch recherchieren. Der schlaksige 61-Jährige stöberte auf dem Institutsgelände in Scheunen und Archiven, fand verschmorte Keilriemen oder Elektronenröhren, die in den 1950er Jahren begehrte Bausteine für Rechner waren.

Hauptquelle Klára

In seinem Buch konzentriert er sich vor allem auf die vielschichtigen Biographien der Wissenschaftler, Ingenieure und der klugen und kompetenten Frauen, die meist nur als Verwaltungspersonal mitarbeiten durften. Eine der wichtigsten Passagen ist von Neumanns zermürbender Kampf mit der ungarischen und amerikanischen Bürokratie um seine große Liebe Klára: 1938 ließ er sich umständlich von seiner ersten Frau scheiden, um die ungarische Jüdin vor den Nazis zu retten. Dysons Hauptquelle sind Kláras Erinnerungen, die in Princeton eine der wichtigsten Programmiererinnen wurde:

"Ich war der Erste, dem erlaubt wurde, die privaten Briefe zwischen Klára und Johnny zu lesen", erinnert sich George Dyson: "Sie haben sich 20 Jahre lang geschrieben, von 1937 bis zu seinem frühen Tod. Als Johnnys Tochter Marina von Neumann sagte, kommen sie nach Michigan; dann der Moment, als ich die Briefe in den Händen hielt, noch in den Umschlägen und mit den Marken drauf - das war atemberaubend. Jetzt sind sie zu Forschungszwecken in der Kongressbibliothek in Washington."

Wegbereiter Gödel

Dyson beschreibt in seinem 500-Seiten-Buch "Turings Kathedrale" mitfühlend und differenziert vor allem die individuellen Geschichten: Wie es John von Neumann mit seinen ausgezeichneten Verbindungen in höchste Kreise von Militär und Regierung geschafft hat, den österreichischen Mathematiker Kurt Friedrich Gödel und seine Frau Adele 1940 rechtzeitig von Wien nach Princeton zu holen.

Der scheue Gödel, der sich ein Leben lang verfolgt fühlte, lernte dort den 70-jährigen Albert Einstein kennen und begann mit ihm über die Relativitätstheorie zu diskutieren. Sie wurden enge Freunde und spazierten gemeinsam durch den Institutspark. Gödel, der vor allem die Existenz unlösbarer Probleme nachwies, arbeitete eng mit von Neumann zusammen. Georg Dysons Fazit:

Treffen mit Edward Snowden

Was würde passieren, wenn der amerikanische Whistleblower Edward Snowden, der 2013 Einblick in die weltweiten Überwachungs- und Spionagepraktiken der Vereinigen Staaten gegeben hat, mit den Erfindern von der Keimzelle des heutigen digitalen Universums zusammentreffen würde?

George Dyson: "Wenn John von Neumann und Edward Snowden zusammenkämen, das würde sehr ungemütlich werden, da möchte ich nicht mit im Raum sein. Interessant wäre die Frage, was passiert, wenn Alan Turing und Snowden zusammenträfen, die beide für den Geheimdienst gearbeitet haben. Und Kurt Gödel, ihn würde Snowden faszinieren, vor allem der logische Gegensatz - was ist da richtig, was ist falsch. Gödel war auch ähnlich paranoid und dachte, er würde ständig verfolgt und in gewisser Weise wurde er das auch."

Service

George Dyson, "Turings Kathedrale. Die Ursprünge des digitalen Zeitalters", Aus dem Englischen von Karl H. Siber, Propyläen, Berlin 2014