Franco Moretti über eine Schlüsselfigur der Moderne
Der Bourgeois
Die industrielle Revolution hat alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige entweiht, hieß es im Kommunistischen Manifest. Seither ist alles anders. Was machte den Antreiber der Veränderung, den Bourgeois, aber aus? Franco Moretti mit einer Spurensuche.
8. April 2017, 21:58
Der italienische Literaturwissenschaftler Franco Moretti lehrt an der Standford University. Und wenn Fachleute wie er eine Publikation herausbringen, die mit zahlreichen Anmerkungen und Verweisen auf andere Sekundärliteratur gespickt ist, dann kommt meist ein Buch heraus, das die Fachwelt interessiert, aber kaum den aufnahmewilligen Laien. Das ist bei Franco Morettis Buch "Der Bourgeois" nicht der Fall. Trotz aller akademischer Beflissenheit schreibt der Autor spannend, seine Argumente sind leicht nachvollziehbar. Man taucht ein in eine Zeit, in dem die Bourgeoisie tonangebend war, und erhält ein detailliertes Bild der "Welt von gestern" - wobei Moretti sich auch kleine Exkurse in die Gegenwart erlaubt.
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Die Bourgeoisie, gebrochen durch das Prisma der Literatur: das ist der Gegenstand des vorliegenden Buches.
Schattenreich Vergangenheit
Moretti will mit dieser Zielvorgabe sagen, dass literarische Texte durchaus historische Relevanz haben, aber sie selbst keine Dokumente der Geschichte sind, wie Gesetzestexte, politische Programmschriften oder moralische Regelwerke. Die Literatur gibt Sachverhalte auf pointierte Weise wieder, in denen das Geschehen vergangener Zeiten noch mit Leben erfüllt erscheint. Mit den literarischen Werken zur Bourgeoisie, so Moretti, "betreten wir ein Schattenreich, in dem die Vergangenheit noch lebendig ist und zu uns spricht".
Daher verknüpft Moretti den Begriff "bourgeois" eher selten an den des "citoyen", also an den "Staatsbürger" im nachrevolutionären Frankreich und im industrialisierten England. Moretti möchte eine Art Charakterbild des Bourgeois liefern. Und zu diesem Charakter gehören nicht unbedingt realpolitische Wünsche und Begehrlichkeiten. Eines ist aber auch klar: Die Bourgeoisie ohne kapitalistische Weltanschauung zu betrachten, wäre absurd.
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Die Börse ist ein armseliger Ersatz für den Heiligen Gral.
Moretti zitiert hier - sicherlich schmunzelnd - den Nationalökonomen Joseph Schumpeter. Gemeint ist ein Vergleich: Die "Aventüren", die Abenteuer der Ritter in den Epen und Romanen - sei es Parzival oder sein persifliertes Alter Ego Don Quichotte - geschehen immer unter Einsatz des eigenen Lebens. Der Bürger hingegen denkt nicht im Traum daran, seine leibliche Existenz aufs Spiel zu setzen - er ersetzt sie durch den Einsatz seines Kapitals.
Doch dieser Tausch ist nicht unproblematisch: Der Begriff "Bourgeois" oder "Bürger" entstand im 11. Jahrhundert, als in den Städten erstmals Handwerk und Handel aufblühten. Um sich vom Erbadel abzusetzen, musste ein gesellschaftlicher Gegenentwurf geschaffen werden. Und man hob einen Wert hervor, der im Verständnis des Abenteuer suchenden Ritters nicht negativer hätte besetzt sein können: Fleiß und vor allem Arbeit.
Arbeiter Robinson Crusoe
"Arebeit" bedeutet im Mittelalter "Mühe", "Not", oft körperliche Arbeit, die Bauern tun, aber kein Ritter. Positive "arebeit" war allein im ritterlichen Abenteuer zu finden, im Schweiße seines Angesichts zu ackern, war eine grässliche Vorstellung. Der Bürger hingegen arbeitet und arbeitet, ja, das, was er sich durch eigene Arbeit erwirtschaftet hat, macht seine Existenz aus. Da mag es verwundern, dass Moretti als ersten wichtigen Romanbeleg für seine Bourgeois-Studie Daniel Defoes "Robinson Crusoe" anführt.
Ist er, der Schiffbrüchige, nicht der moderne Held schlechthin? Nein!, sagt Moretti, man müsse nur genau lesen. Denn was macht Robinson Crusoe, nachdem er auf der einsamen Insel gestrandet ist? Er errichtet eine kleine Festung, er baut Getreide an, er beginnt Ziegen zu züchten. Sicher, er tut dies, um zu überleben, aber er arbeitet und arbeitet weiter - als gäbe es keine Alternative. Für Franco Moretti ist dieses Verhalten signifikant für den bourgeoisen Roman. Sein Fazit:
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Die Kultivierung der Arbeit ist vermutlich die größte formale Leistung der bürgerlichen Klasse gewesen.
Mit dem Hohelied auf die Arbeit werden noch andere Begriffe geadelt: Fleiß, Genauigkeit, Pünktlichkeit, Produktivität, ja, auch der "Komfort" im eigenen Heim meint Nützlichkeit während der wohlverdienten Ruhezeit. Und noch ein Begriff, so Moretti, erstrahlt im bürgerlichen Glanz.
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Ernsthaft - das ist die Haltung der Bourgeoisie auf dem Weg zur herrschenden Klasse.
Weitere Literaturbeispiele
Der Bourgeois gibt sich ernsthaft-rational, daher rührt oft der realistische Stil in den Gesellschaftsromanen. Mit Witz, Ironie oder gar geistiger Ausschweifung hat der arbeitende und am Profit orientierte Bürger wenig am Hut. Derartige Attitüden stehen dem Anti-Bürger gut zu Gesicht, etwa Charles Baudelaire oder Oscar Wilde. Da sie aber wenig zum Selbstverständnis des Bourgeois beitragen, kommen sie in Morettis Studien nur am Rand vor.
Franco Morettis Auswahl der Literaturbeispiele für seine Bourgeois-Studie mag man selektiv nennen: Daniel Defoe, Goethe, George Eliot, Honoré de Balzac, Gustave Flaubert, Thomas Mann - es kommen aber auch Autoren zu Wort, die man bei uns vielleicht noch nicht so gut kennt, etwa der Brasilianer Machado de Assis. Diese Schriftsteller nehmen sicher eine ambivalente Haltung zur Bourgeoisie ein, aber sie sind keine "poètes maudits", sie sind keine vom Bürgertum verfemten Autoren und sie zählen sich auch nicht zur wilden Boheme.
Henrik Ibsen und die Doppelmoral
Dem möglicherweise größten Dramatiker der bürgerlichen Welt, Henrik Ibsen, räumt Moretti viel Platz ein. Dies deswegen, weil Ibsen die Doppelmoral der bourgeoisen Gesinnung explizit auf die Bühne brachte. Der ehrbare Bürger - will er denn gesellschaftliche Achtung erlangen - muss immer auch ein raffinierter Finanzmann sein. Hier tut sich eine Grauzone zwischen Sein und Schein, zwischen Ehrbarkeit und Betrug, zwischen ethischer Gesinnung und Gewissenlosigkeit auf.
Diesen Konflikt kann der Bourgeois nicht lösen. Der Grund liegt nicht in seiner eigenen Hände Arbeit, sondern in etwas anderem: Seine Arbeit ist es, durch die Arbeit anderer sein Glück zu machen. Und der Bürger verliert sein Gesicht, weil er wie gebannt auf den Arbeits- wie Kapitalmarkt starrt. Morettis Fazit lautet daher:
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Darin, dass er die Impotenz des bürgerlichen Realismus gegen die Megalomanie des Kapitalismus sichtbar gemacht hat, liegt Ibsens bleibende Lektion für die Gegenwart.
Franco Moretti ist natürlich klar, dass die Bourgeoisie als "herrschende Klasse", wie er es nennt, nicht mehr existiert. Doch Manager und Konzernlenker unserer Tage können die Doppelmoral nicht abschütteln, die Henrik Ibsen auf die Bühne brachte. Arbeit ist weiterhin ein hohes Gut. Sie im großen Rahmen zu gestalten und zu verwalten, bedeutet Macht. So gesehen ist der Bourgeois des 19. und frühen 20. Jahrhunderts der Großvater heutiger Industriebosse und Wirtschaftspolitiker. Und man weiß es ja: Freunde kann man sich aussuchen, seine Familie nicht.
Service
Franco Moretti, "Der Bourgeois - Eine Schlüsselfigur der Moderne", Aus dem Englischen von Frank Jakubzik, Suhrkamp 2014