Über Verlust und Verarbeitung

Nach der Welle

Sonali Deraniyagala hat beim Tsunami ihren Ehemann, beide Kinder und die Eltern verloren. Ihr Buch "Nach der Welle" ist zum einen eine ehrliche und schonungslose Aufzeichnung über ihre tiefe, verzweifelte Trauer. Es ist aber auch ein Buch darüber, wie wichtig Erinnerungen sind. Heute leitet Deraniyagala die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät an der University of London.

Am 26. Dezember 2004 kam es kurz vor acht Uhr Ortszeit vor der Nordwestküste der indonesischen Insel Sumatra zum drittstärksten je aufgezeichneten Beben. Dieses löste eine Reihe verheerender Tsunamis an den Küsten von Sri Lanka, Indonesien und Thailand aus. 230.000 Menschen kamen dabei ums Leben, weitere 100.000 wurden verletzt.

Für Sonali Deraniyagala begann der 26. Dezember wie jeder andere Urlaubstag am Meer bei strahlend schönem Wetter. Yala ist ein Nationalpark an der Südostküste der Insel Sri Lanka, woher die Ökonomin ursprünglich stammt. Dort hatte sie mit ihrem britischen Ehemann, Steve Lissenburgh und den beiden Söhnen, Vikram und Malli schon oft Ferien gemacht.

"Wir öffneten die Vorhänge, und da war das Meer, so wie immer", erinnert sich die Autorin. "Der Strand war nicht gleich vor dem Hotel; er war ein bisschen weiter entfernt. Ein Freundin von mir machte auch Urlaub dort, und wir standen in der Tür zu meinem Hotelzimmer und tratschten. Sie stand Richtung Fenster und sagt, das Meer sehe viel näher aus als sonst. Und dann: Oh Gott, das Meer kommt herein!"

Dann ging alles sehr schnell. Die Familie stürzte aus dem Hotel und sprang in einen Jeep. Doch der Fahrer schaffte es nicht einmal aus der Hotelanlage hinaus. Von allen Seiten strömte Wasser in den Jeep. Sonali und Steve hielten ihre Kinder empor, damit sie atmen konnten. Doch - dann kippte das Auto. An diesem 26. Dezember 2004 verlor Sonali Deraniyagala ihre beiden Söhne, ihren Mann sowie beide Eltern, die auch in Yala Urlaub machten.

Angst vor Erinnerungen

Ihr Buch "Nach der Welle" ist zum einen eine ehrliche und schonungslose Aufzeichnung über ihre tiefe, verzweifelte Trauer. Es ist aber auch ein Buch darüber, wie wichtig Erinnerungen sind: "Unmittelbar nach dem Tsunami - die Monate und selbst noch Jahre danach - fürchtete ich mich vor Erinnerungen", erzählt Sonali im Interview. "In einem Augenblick war mein ganzes Leben vorbei. Ich hatte panische Angst, mich an die Vergangenheit zu erinnern. Aber man kann Erinnerungen ja nicht einfach abstellen. Dazu kam das Gefühl der Unwirklichkeit. Ich konnte einfach nicht fassen, dass meine ganze Familie tot war. Doch ich musste es mir begreiflich machen."

Dass dieses Buch zustande kam, ist dem New Yorker Psychiater zu verdanken, bei dem die Autorin eine Therapie begann. Er riet ihr, ihre Gedanken und Erinnerungen aufzuschreiben. Und das tat sie gut sechs Jahre lang.

Schreiben als Therapie

Zum Schreiben setzte sie sich mit ihrem Laptop in ein gemütliches Eck ihres Loftbetts. Dort, so erzählt sie, fühlte sie sich sicher genug, um die Erinnerungen anzunehmen: "Ich schrieb als erstes darüber, wie ich im Wasser war, mitten in diesem geradezu biblischen Ereignis. Es war wichtig für mich, das präzise niederzuschreiben. Ich erinnerte mich an höllische Schmerzen, denn ich wäre ja fast ertrunken. Ich erinnerte mich auch an ganz merkwürdige Dinge: Irgendwann ließ ich mich auf dem Rücken treiben. Da sah ich über mir Vögel über den Himmel ziehen. Es waren Störche. Mein Sohn und ich hatten oft Vögel beobachtet. Und in diesem Moment dachte ich: Diese Störche sind gewiss aufgemalt."

Sonali Deraniyagala überlebte, weil es ihr gelang, sich an einem Ast festzuklammern. Danach lebte sie Monate bei ihren Verwandten in Colombo. Die Familie verräumte die Messer und konfiszierte die Schlaftabletten, die die Autorin sich besorgt hatte. Um ihren Schmerz zu betäuben, begann sie zu trinken. Zur Mittagszeit hatte sie meist schon eine halbe Flasche Wodka gekippt. In der Zwischenzeit hatte Sonali Deraniyagalas Bruder das nun leerstehende Haus der Eltern an eine niederländische Familie vermietet. Mit
der Reaktion seiner Schwester darauf hatte er wohl kaum gerechnet.

"Allmählich kam ich zu mir. Nun wollte ich das Haus, wo ich aufgewachsen war, besuchen, aber das war nicht möglich. Ich war unbeschreiblich zornig. Wenn ich in das Haus hineinwollte, musste ich die Mieter vertreiben. Ich begann also eine Terrorkampagne. Ich rief mitten in der Nacht bei der Familie an und machte gruselige Geräusche ins Telefon. Ich dachte, das würde ihnen Angst einjagen. Das war vermutlich nicht der Fall, aber beunruhigend war es sicher. Ich hielt das auch noch für eine lustige Idee. Außerdem fuhr ich nachts zu meinem ehemaligen Elternhaus und trommelte ans Tor. Ich machte das monatelang."

Ein halbes Jahr nach der Flutwelle, im Juni 2005, kamen der Vater und die Schwester von Steve Lissenburgh aus London angereist. Sie wollten den Ort der Katastrophe mit eigenen Augen sehen. Sonali Deraniyagala wäre lieber nicht nach Yala gefahren. Doch dem Schwiegervater zuliebe tat sie es doch. "Die Bäume waren alle aschfarben", erzählt sie. "Alle Gebäude waren eingestürzt. Das Hotel war einmal ein weitläufiges, langgezogenes Resort. Davon war nur ein Trümmerhaufen übrig. Es sah so aus, als hätte man Grundfesten quer durchgeschnitten wie eine Torte. Ich sah nur Trümmer und Sand und Staub. Es war ein sehr heißer und windiger Tag. Die Stimmung fühlte sich apokalyptisch an."

Unerklärbare Funde

Plötzlich bückte sich der Schwiegervater und hob ein Blatt Papier auf. Die Autorin beschreibt diesen Moment in ihrem Buch so:

Danach kehrte Sonali Deraniyagala immer wieder an den Strand von Yala zurück. In der Hoffnung vielleicht noch etwas zu finden, das ihrem Mann oder den Buben gehört hatte. Sie grub im Sand und störte sich nicht daran, dass sie sich die Hände und Arme an rostigem Metal zerkratze. Sie inspizierte jedes Stück Plastik. Konnte das vielleicht ein Spielzeug sein? Bei einer solchen Expedition fand sie ein Stückchen Stoff unter einem Dornbusch und halb vergilbt von der Sonne. Es war das grüne Baumwollhemd, das Vikram am Weihnachtsabend getragen hatte. Sie erinnerte sich genau: Er mochte die langen Ärmel nicht, und sein Vater krempelte sie ihm auf. Ein Ärmel war noch immer aufgerollt.

Die Ökonomin kehrte Jahre nicht in das Haus der Familie in London zurück. Einen Großteil der Zeit lebt sie nun in New York. Die ersten Erinnerungen, die sie zulassen konnte, waren von ihren Kindern, dann von ihrem Mann Steve, und schließlich von ihren Eltern. Je länger sie schrieb, desto mehr verlor sie die Angst vor den Erinnerungen.

"Ich erinnerte mich an den Tag vor der Welle, den Christtag. Mein jüngerer Sohn verkleidete sich gerne", erzählt Sonali. "Er war zwar erst fünf Jahre alt, aber hatte einen Hang zur Extravaganz. Wir hatten ihm als Weihnachtsgeschenk eine wunderschöne Karnevalsmaske mit bunten Federn gekauft. Er hielt sie sich vors Gesicht und tanzte auf dem Bett in unserem Hotelzimmer. Viele so schöne Erinnerungen fielen mir ein. Und natürlich ist der Verlust schmerzlich, doch wenn ich einen solchen Moment beschreibe, dann erfüllt mich das mit Freude."

Als Sonali Deraniyagala mit ihren Aufzeichnungen begann, hoffte sie auch, die Ereignisse besser zu verstehen; vielleicht einen Sinn dahinter zu begreifen. Das ist zwar nicht geglückt. Doch die Autorin hat dennoch einiges bewältigt: Mit dem Gefühl der Unwirklichkeit, der nagende Frage – habe ich tatsächlich eine Familie gehabt – ist es vorbei. Dieses Buch zu schreiben, so die Autorin, habe ihr das Leben gerettet.

Service

Sonali Deraniyagala, "Nach der Welle", aus dem Englischen von Peter Dahm Robertson, S. Fischer Verlag