Warum wir Einwanderung neu regeln müssen
Exodus
Der Zuzug von Menschen aus in der Regel ärmeren Ländern wird meist unter religiösen, kulturellen und ethnischen Gesichtspunkten betrachtet, selten unter ökonomischen. Der englische Entwicklungsökonom Paul Collier möchte diesen Knoten aus Unwahrheiten, Helfersyndrom und Emotionen durchtrennen. Er beleuchtet in seinem Buch "Exodus", welche Kosten und welchen Nutzen die weltweite Migration mit sich bringt: für die aufnehmenden Länder, für die Einwanderer selbst und für jene Länder, die die Migranten zurücklassen.
8. April 2017, 21:58
Einwanderungspolitik ist ein politisches Minenfeld, da treffen sich die Akteure aus Regierung und Opposition regelmäßig zum verbalen Schlagabtausch. Dabei geht es dann aber nicht um die besseren Argumente oder gar um Fakten, sondern um Ressentiments beziehungsweise deren reflexartige Abwehr. Für Regierende ist dabei wenig zu gewinnen. Der Zuzug von Menschen aus in der Regel ärmeren Ländern wird ja selten unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet, sondern unter religiösen, kulturellen und ethnischen. Da spielen Ängste und tradierte Vorstellungen eine große Rolle, aber auch die Beschwörung der Aufnahmegesellschaft als kompakte, geschlossene Gesellschaft, die sie in Wirklichkeit genauso wenig ist wie eine offene und sich ständig neuen Gegebenheiten anpassende. Die Rede ist von Europa.
Zitat
Moralische Einstellungen zur Einwanderung sind auf verwirrende Weise mit Ansichten zu Armut, Nationalismus und Rassismus verknüpft. Die aktuelle Haltung zur Immigration ist geprägt von Schuldreaktionen auf verschiedene Verfehlungen, die sich in der Vergangenheit ereigneten. Eine rationale Diskussion über die Migrationspolitik ist erst dann möglich, wenn dieses Knäuel an Motiven entwirrt ist.
"Aktuelle Politik schadet allen"
Solange dieses Knäuel fest gefügt ist, passiert das, was wir gegenwärtig sehen: Menschen aus armen Ländern in Afrika, dem Nahen und Mittleren Osten oder aus Osteuropa nehmen jede Mühe und Gefahr auf sich, um in die reicheren europäischen Länder zu gelangen. Dort werden sie entweder isoliert und dann zurückgeschickt. Oder sie bleiben, um als billige Arbeitskräfte in der untersten sozialen Schicht gehalten zu werden, der jeder Anreiz fehlt, sich zu integrieren.
Diese Einwanderungspolitik schadet den Aufnahmegesellschaften, den Migranten und deren Herkunftsländern gleichermaßen, mein Paul Collier. Alle verlieren: die Einwanderer, weil sie sich um die Chancen, derentwegen sie ihre Heimatländer verlassen haben, betrogen fühlen. Die Gesellschaften, die sie verlassen haben, die einen beträchtlichen Teil junger Menschen verlieren. Und schließlich die Aufnahmegesellschaften, die den Zuzug dieser Menschen oft als Belastung oder gar Bedrohung empfinden und an Integration wenig interessiert sind.
Zitat
Es ist lächerlich, dass die Europäische Union die Leute erst ignoriert und sie dann mit Rechten überschüttet, sobald sie einen Fuß auf den Strand von Lampedusa setzen.
Fakten statt politischer Argumente
Paul Collier lässt sich auf politische Argumente nicht ein, das ist die Stärke und zugleich auch die Schwäche seines Buchs. Er argumentiert mit Fakten. Der positive Effekt von Einwanderung ist dann gegeben, wenn gut ausgebildete Menschen den Fachkräftemangel innerhalb der Aufnahmegesellschaft ausgleichen. Allerdings fehlen diese Menschen dort, wo sie herkommen. Der negative Effekt tritt beim Zuzug ungelernter Menschen ein. Denn die werden, wenn überhaupt, im untersten Lohnsegment beschäftigt und drücken damit das Lohnniveau auch für die Einheimischen nach unten. Die Bevölkerungsdichte an der Armutsgrenze nimmt zu.
Migranten als "Lückenfüller"
Eine liberale Einwanderungspolitik und möglichst offene Grenzen sind für Paul Collier der falsche Weg, weil damit die Armut nur global verteilt wird. Seine Botschaft, die vermutlich nicht nach jedermanns Geschmack ist, lautet: die Aufnahmegesellschaften müssen zuerst einmal an ihre Bedürfnisse denken und den Zuzug von Migranten so steuern, dass diese Menschen auch gebraucht werden. Sie sollen also in die Lücken passen, die in den Aufnahmegesellschaften auszumachen sind, sei es auf dem Arbeitsmarkt, sei es zur Sicherung der Geburtenrate und Altersversorgung. Nur so, meint Paul Collier, sei ein Miteinander möglich.
Zitat
Obwohl potenzielle Migranten wie alle anderen auch Interessen haben, gibt es keinen Grund, warum ihre Interessen diejenigen anderer übertrumpfen sollten, doch genau dies wird ohne eine angemessene Migrationspolitik geschehen. Die einheimischen Bevölkerungen der Aufnahmeländer haben nicht nur im eigenen Interesse, sondern auch aus Fürsorge für andere das Recht, den Zugang zu ihren Ländern zu beschränken.
Im Gegenzug muss in die Herkunftsländer investiert werden, damit die Menschen wenig Anreiz haben, diese zu verlassen. Diejenigen, die gegangen sind, sollten wieder zurückkehren können. Das gilt umso mehr für Asylsuchende, die nur Schutz auf Zeit genießen sollten. Ein Bleiberecht lehnt Collier ab, gibt es keinen Asylgrund mehr, müssten diese Menschen zurückkehren. Das hat für ihn nichts mit Inhumanität zu tun, sondern mit der Aufrechterhaltung des globalen Gleichgewichts. Und dieses, ist Paul Collier überzeugt, wird sich wieder herstellen lassen.
Zitat
Massenmigration ist kein dauerhaftes Merkmal der Globalisierung. Ganz im Gegenteil ist sie eine vorübergehende Reaktion auf eine hässliche Phase, in welcher der Wohlstand noch nicht globalisiert ist. In hundert Jahren wird die Welt in Bezug auf Handel, Informationen und Finanzen noch weit stärker integriert sein als heute.
Das klingt optimistisch, aber, wie gesagt, die politische Dimension der Migration spielt in Colliers Überlegungen keine Rolle. Wie stark kann der politische Islam auf die Aufnahmegesellschaften einwirken? Wie weit ist Integration gar kein Ziel? Man denke dabei nur an die derzeitige Haltung der Türkei, die die Assimilation der Auslandstürken ablehnt. Die Einwanderung in ein reicheres Land mag ökonomisch begründet sein, das bedeutet aber noch lange nicht die Akzeptanz von Kultur und Werten. Ob die Bildung von Parallelgesellschaften durch ökonomische Chancengleichheit verhindert werden kann, ist daher fraglich.
Service
Paul Collier, "Exodus - Warum wir Einwanderung neu regeln müssen, aus dem Englischen
von Klaus-Dieter Schmidt,
Siedler Verlag
FAZ - "Wir locken die Menschen in den Tod", Interview mit Paul Collier