Ein unglaubliches Bestiarium
Wahre Monster
Der britische Autor und Journalist Caspar Henderson stellt in seinem Buch "Wahre Monster" auf knapp 350 Seiten die kuriosesten Tiere unseres Planeten vor. Das illustrierte Kuriositätenkabinett besticht aber vor allem durch die zahlreichen historischen, biologischen und philosophischen Verweise, Zitate und Anekdoten.
8. April 2017, 21:58
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Wenn man zum ersten Mal einen Axolotl sieht, fällt es einem schwer, den Blick abzuwenden. Die lidlosen Kopfaugen, die wie Korallen von seinem Hals abzweigenden Kiemen und der eidechsengleiche, mit zierlichen Armen und Beinen, Fingern und Zehen ausgestattete Körper mitsamt seinem kaulquappenähnlichen Schwanz lassen dieses Wesen höchst fremd anmuten.
Gleich das erste der insgesamt 27 wunderlichen Wesen wirkt wie ein freundliches Wappentier der Gattung der absurden Tiere. Die oft rosa oder gelb gefärbten mexikanischen Schwanzlurche mögen noch so monströs anmuten, durch ihr putziges Gesicht wirken sie stets, als wären sie von einem Comiczeichner erfunden. Tatsächlich waren sie Vorbild für eine der Pokémon-Figuren.
Axolotl sehen aber nicht nur seltsam aus, sie haben auch erstaunliche Fähigkeiten. Wie ihre Verwandten, die Molche, sind sie in der Lage, ganze Extremitäten nachwachsen zu lassen. Und sie können dieses Kunststück sogar wiederholen. Außerdem bleibt, gleichgültig wie oft der Körperteil verloren geht, keine Narbe zurück. Regenerationsmediziner glauben, dass es einmal möglich sein wird, sogar Organe des Menschen mit Mitteln wiederherzustellen, die man zumindest zum Teil diesen Kreaturen abgeschaut hat.
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Über Tausende von Jahren glaubten Menschen, dass der Salamander das Geheimnis des Feuers kenne. Das ist natürlich nicht wahr. Aber diese sonderbaren Kreaturen - und besonders der Axolotl - könnten Hinweise auf die Flamme des Lebens besitzen.
Wesentlich furchteinflößender als der liebenswerte Axolotl ist der Gonodactylus oder "genitalfingriger" Fangschreckenkrebs, wie ihn der Fachmann bezeichnet. Zu unserem Glück ist er nicht größer als eine Gewürzgurke. Trotzdem hätte er die Fähigkeit, uns einen Finger- oder Armknochen zu brechen, gerieten wir in seine Nähe auf dem tropischen Meeresboden. Der unscheinbare Krebs kann mit seinen keulenartigen Gliedmaßen fast so schnell zuschlagen, wie eine Gewehrkugel beschleunigt. Seine Energie erhält der Schlag aus einer Art Feder an der Basis des Gliedes. Die Bewegung geschieht derartig schnell, dass sie im Wasser hinter diesem Glied ein partielles Vakuum erzeugt, das wie ein Schlag wirkt, wenn er sein Opfer trifft. Doch der Gonodactylus besitzt noch andere monströse Organe, die ihn zur perfekten Killermaschine machen: die komplexesten und höchstentwickelten Augen im gesamten Tierreich.
Auf den ersten Blick wirkt auch der Honigdachs relativ harmlos. Doch der grau-schwarze, pelzige Räuber hat es faustdick hinter seinen kaum sichtbaren Ohren. Man hat schon Exemplare beobachtet, die Löwen von ihrer frisch gefangenen Beute vertrieben haben. Ihre Furchtlosigkeit beruht auf mehreren Faktoren, die mit der Redewendung "einfach nicht umzubringen" bestens beschrieben sind.
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Zähe, lappige Haut schützt ihre Kehle vor den Bissen anderer Honigdachse. Er zeigt sich fast vollkommen immun gegen hochgiftige Schlangenbisse und weitestgehend gleichgültig gegenüber Bienenstichen. Ohnehin hat er noch ein bestialisch stinkendes Sekret in der Hinterhand beziehungsweise in einer Drüse nahe dem After und versetzt damit ohne Probleme einen Schwarm wütender Bienen ins Taumeln.
Innerer Schrecken
Mehrere unscheinbare Kreaturen des Tierreichs zeigen, dass Monströses nicht auf Äußerlichkeiten beschränkt sein muss. Delfine etwa schauen lieb aus, sind hyperintelligent und mitfühlend, gerieren sich aber auch als Sex-Maniacs, die zu bestialischen Gräueltaten fähig sind. Bestimmte Arten von Schwämmen ziehen mit ihrer scheinbaren Harmlosigkeit kleine Meerestiere an, wachsen dann um diese herum und halten sie lebenslang gefangen.
Das Verhalten der rotgesichtigen Japanmakaken wiederum ähnelt auf verblüffende Weise jenem von allzu menschlichen Gangstern. Nur Alphatieren sind die begehrten Plätze an den heißen Quellen in den japanischen Bergen vorbehalten. Hierarchisch Tieferstehende müssen sich aneinander kuscheln oder weiter frieren. Wer sich an gängige Mafiamethoden erinnert fühlt, liegt nicht falsch.
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Die Position der dominanten Familie an der Spitze der Scharhierarchie ist so gewichtig, dass selbst altehrwürdige Mitglieder anderer Familien noch den jüngsten Mitgliedern der ersten Familie den Vortritt lassen - auch wenn sie bald versuchen, ein bisschen zu pöbeln, wenn sie glauben, dass es niemand sieht.
Von A wie Aal bis Z wie Zebrabärbling versammelt Caspar Henderson mehr oder weniger bekannte "Monster" in seinem "unglaublichen Bestiarium". Tatsächlich finden sich wunderliche Fakten und Fähigkeiten, die erstaunlicher sind als jene so mancher Fantasiefiguren. Hendersons Kuriositätenkabinett besticht aber vor allem durch die zahlreichen historischen, biologischen und philosophischen Verweise, Zitate und Anekdoten. Neben Dornteufel, Plattwurm, Wasserbär, Kugelfisch, Krake und Venusgürtel darf einer natürlich nicht fehlen: der Mensch. Auch ihm ist ein Kapitel gewidmet.
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Als vielleicht seltsamstes Wesen überhaupt sind wir dabei, diese Wunderwelt zu zerstören, besitzen jedoch auch die Fähigkeit, sie durch Forschung und Kultur bewahren und bewundern zu lernen.
Service
Caspar Henderson, Judith Schalansky (Hg.), "Wahre Monster - Ein unglaubliches Bestiarium", aus dem Englischen von Daniel Fastner, Naturkunden/Matthes & Seitz Berlin