Texte von Herta Müller
Hunger und Seide
"Hunger und Seide" – erstmals 1995 erschienen – enthält dreizehn Essays, eine Rede und Artikel, die die spätere Literaturnobelpreisträgerin in der ersten Hälfte der 1990er Jahre für diverse Zeitungen, Sammelbände oder fürs Radio verfasste. Sie als bloße Gelegenheitstexte zu bezeichnen wäre ebenso verfehlt, wie zu verhehlen, dass Einiges davon deutlich Patina angesetzt hat und nur noch als Zeitdokument zu lesen ist.
8. April 2017, 21:58
Herta Müller ist 1987 als so genannte Spätrückkehrerin aus Rumänien nach Deutschland ausgewandert. Zwischen ideologisch links und rechts nicht ganz einfach einzuordnen, begann Müller von ihren Erfahrungen unter der rumänischen Diktatur zu reden, nahm sich aber auch kein Blatt vor den Mund, wenn es um die aktuelle BRD ging.
Das erzählerische Element ist in Herta Müllers politischen Artikeln immer sehr stark: mag es da um die Ausländerfeindlichkeit und neuen Rassismus im gerade wiedervereinigten Deutschland gehen, um die Ratlosigkeit der Politik angesichts rechtsradikaler Umtriebe von Neonazis oder die Heuchelei liberal kritischer Menschen, die ihre Kinder dann lieber doch in Schulen mit geringerem Ausländeranteil schicken. Besonders empfindlich – um nicht zu sagen – hysterisch – reagiert Herta Müller auf die bald nach 1989 wiedergekehrte Forderung nach gesellschaftlichen Utopien.
Der vielleicht beste Text in "Hunger und Seide" ist eine groß angelegte literarische Reportage über die Zigeuner Rumäniens. Herta Müller erzählt von einem Pogrom in einer Zigeunersiedlung am Schwarzen Meer, von der Ermordung von 35.000 Zigeunern in den Lagern Transinstriens während des 2. Weltkrieges; und sie scheut dabei auch nicht vor Kritik zurück. Ceausescu liebte Zigeunermusik. Die Führung der Minderheit entwickelte in den Jahren der Diktatur ein Gemisch aus Anpassung und Opportunismus, privilegierte Musiker spielten die Begleitmusik zur totalen Staatsmacht.
Herta Müllers Artikel über den Krieg in Jugoslawien wirken heute eine wenig aus der Zeit gerutscht. Von brennender Aktualität bleibt hingegen die dort formulierte Kritik an europäischen und vor allem deutschen Intellektuellen, die nur schamhaft bereit seien, Position zu beziehen, gerade wenn es notwendig ist. Das Ganze lässt sich problemlos auf die aktuellen Diskussionen über Russland übertragen.
