"Randnotizen" von Nadja Kwapil

Dem Kontext entrissen

"Journalisten reißen alles aus dem Kontext", sagte ein Pressesprecher vor wenigen Tagen zu mir. Er saß neben meinem Interviewpartner, kontrollierte das Gespräch.

"Aus dem Kontext reißen" - aus seinem Mund hörte sich das richtig brutal an. Der notorische Medienkonsument muss sich daran gewöhnt haben, so oft, wie er auf diese Redewendung stößt. Frauenministerin Gabriele Heinisch-Hosek verwendete sie kürzlich, als FPÖ-Generalsekretär Herbert Kickl ihr vorwarf in einer Broschüre des Frauenministeriums "gendergerechte Steinigungen" forcieren zu wollen. "Eto wirwano iz kantjeksta", sagte Wladimir Putin nachdem er behauptet hatte, er könnte Kiew in zwei Wochen einnehmen - "das ist aus dem Kontext gerissen".

Mit ihrem Dauereinsatz, verliert die Phrase an Schärfe und an Glaubwürdigkeit. Man weiß nicht, gegen wen man sein Misstrauen zuerst richten soll: gegen das Medium, das vermeintlich aus dem Kontext Gerissenes zitiert; oder gegen den, der die Redewendung verwendet.

Der Kontext - oder das, was davon übrig ist - entfacht eine regelrechte Klagewut, beschäftigt den Presserat und Gerichte. Wie weit die Distanz zwischen Sachverhalten maximal sein darf, um sie noch als zusammenhängend bezeichnen zu können, ist umstritten. Was muss rein, was kann weg? "Das wird von Situation zu Situation anders zu beurteilen sein", sagen Juristen, in ihrer Vorsicht.

Wer eng verwachsene Zusammenhänge durchtrennt, wichtige Details, Fragen oder Antworten in einem journalistischen Beitrag weglässt, führt den Medienkonsumenten durch Ruinen, verzerrt Gesichter, entstellt Biografien und Charaktere bis zur Unkenntlichkeit. Wer den Sinn einer Aussage missbräuchlich derart verfälscht, dass sie unwahr oder irreführend wird, macht sich strafbar.

Das wissen auch die, die den Satz "das ist aus dem Kontext gerissen" missbräuchlich verwenden, als opportunes Fertigteilargument, als Rechtfertigung, mit vielen "unds" und "weils" und "abers" und "auchs". Besonders Politiker und Pressesprecher berufen sich als geschulte Interviewpartner reflexartig auf den Kontext, den fehlenden Zusammenhang, wenn sie behaupten, von Journalisten unvollständig wiedergegeben worden zu sein. "Unzulässige journalistische Verkürzung", nennen sie es auch.

Etwas aus dem Kontext zu reißen, sagte derselbe Pressesprecher, sei integraler Bestandteil des Journalismus. Das mache einen Journalisten zum Journalisten. In der Tat: Wie man etwas fachmännisch "aus dem Kontext reißt", lernen Journalisten in einer einschlägigen Berufs-Ausbildung. Sie nennen es anders: redigieren, den Text für die Veröffentlichung bearbeiten. Es ist nicht nur ein Tun, sondern vielmehr ein Unterlassen. Unwichtige Informationen werden weggelassen - wie Zitate, die der Geschichte nicht dienen, die nicht zu ihr gehören. Etwas in diesem Sinne "aus dem Kontext zu reißen" ist nichts Brutales, es ist kein Gewaltakt. Gewalt übt, wer bewusst Wichtiges entfernt, unter der Diktatur einer journalistischen These oder eines reißerischen Vorurteils, um Klickvieh anzulocken oder Ohren- und Augenfutter auszustreuen.

Der Beitrag wird dann nicht bloß gestutzt, in Form gebracht, wie eine Frisur, sondern ausrasiert. Ja, beim "Kontextualisieren" geht es auch um Äußerlichkeiten. Um jene des Journalisten, der sein Werk verkaufen muss und jene des Interviewpartners, der sich in seinem Sinne präsentieren möchte. Es geht um Interessen. Und um die tiefe Kluft zwischen Fremdwahrnehmung und erwünschter Fremdwahrnehmung, darum, wie jemand beabsichtigt gesehen zu werden.

Wer sich in die Höhle der Medien wagt, gibt ein Stück Souveränität ab, setzt sich zuerst der Wahrnehmung eines Mediums aus, bevor er sich dem Zielpublikum präsentieren kann. Wahrnehmung ist nicht kontrollierbar. Wahrzunehmen heißt auszublenden.