Kurzessay zu 2 Chronik 36, 14 - 16. 19 - 23
Dieser Text bildet den Abschluss der hebräischen Bibel. Er klingt wie ein Testament.
8. April 2017, 21:58
Alle wichtigen Marker sind zugegen: die Kündungen des Propheten Jeremia, die Tempelzerstörung im 6. Jhdt. v. C., der Schabbat als Tag des ewigen Bundes Gottes mit Israel, das Exil, die Befreiung durch den Perserkönig Kyros und die Heimkehr nach Jerusalem.
Dass dieses Testament einen Propheten wie Jeremia erwähnt, überrascht; ebenso dass es von Zerstörung und Exil spricht – und das am Ende der heiligen Schriften. Als man diese heiligen Schriften auf ihre Reihung brachte, war der Jerusalemer Tempel im Jahr 70 n. C. das zweite Mal zerstört worden. Bald darauf durften Juden Jerusalem nicht einmal mehr betreten. Doch mit dem Blick auf Kyros blitzt eine Hoffnung auf, dass Israel wieder nach Jerusalem ziehen darf, irgendwann einmal.
Dieses Hoffen aber schiebt die Verlustgeschichte nicht beiseite. Man zieht keinen Schlussstrich unter die Vergangenheit. Man erinnert sie. Und diese Erinnerung ist heilig, heilige Schrift – und das macht sie so überraschend.
Was Israel hier gelungen ist, ist die vielleicht größte Vorgabe für Christentum und Islam, die sich in unterschiedlicher Weise auf das Judentum beziehen. Denn Israel deklariert die Schriften der Propheten als heilig, obwohl sie zu ihrer Zeit hoch umstritten waren und auch nachher schwer zu ertragen. Die Propheten gehörten nicht zum religiösen oder politischen Mainstream. Sie waren Außenseiter mit verbogenen Biografien: Jeremia heiratete nicht einmal; Hosea heiratete eine Prostituierte; Amos unterlag Amazjah, der ihn beim König denunzierte; ein Engel verbrannte Jesaia die Zunge; und Ezechiel verlor durch die Zerstörung des Tempels seine Zuständigkeit.
Was sie alle einte, war der Blick von unten, der menschliche Blick – und das Hoffen auf Gott. Das war alles. Das genügte. Es genügt bis heute.
In einem Gedicht aus dem Jahr 1974 hat der jiddische Lyriker Abraham Sutzkever diese einfache Botschaft aufgenommen, als er fragte: „Wer wird bleiben?“:
„Mehr als die vielen Sterne über dieser Welt
jener Stern wird bleiben, der in eine Träne fällt.
Auch ein Tropfen Wein wird bleiben, hier in seinem Krug.
Wer wird bleiben? Gott wird bleiben. Ist dir’s nicht genug?“