24 h in Ö1
Ulysses
Hörspiel nach dem gleichnamigen Roman von James Joyce. Aus dem Englischen von Hans Wollschläger. Bearbeitung, Regie und Musik: Klaus Buhlert.
8. April 2017, 21:58
2012 wurde der Roman als mittlerweile vielfach ausgezeichnetes Hörspiel realisiert. Klaus Buhlert, den Ö1 Hörer/innen nicht nur durch seine Hörspielfassung von Elias Canettis "Die Blendung" bekannt, zeichnete für die Hörspieleinrichtung, Musik und Regie verantwortlich. Das gut 22-stündige Hörwerk sendet Ö1 an einem Tag. Von acht Uhr früh bis acht Uhr früh.
Die Hörerinnen und Hörer erwarten beim ORF große Hörkunst und eine Hörerfahrung, die von Vergnügen, sportivem Anspruch und gewiss Überforderung begleitet sein durfte. Am Ende führt dieses Radioereignis vielleicht zu einer erschöpften Zufriedenheit und zu Glück, die nur empfindet, wer sich der Kunst aussetzt. In diesem Fall einem inkommensurablen Roman und einem eigentlich durchgehend nicht konsumierbaren Hörwerk.
"Toll! Mutig. Danke."
Den Bloomsday 2012 feierten die Sender SWR2 und DLF mit diesem Hörspiel als Radiotag, der bis in die frühen Morgenstunden führte. Die Hörer/innen-Resonanz war überwältigend: "Großes Lob für den Mut, 22 Stunden dem Alltag, den Finanzmarkten, dem Wetter und den Schlagzeilen kaum Raum zu geben. Stattdessen Bilder aus Dublin. Das ist Freiheit durch Kultur. Toll! Mutig. Danke."
"Ich sitze jetzt schon seit über neun Stunden hier in meinem Haus und höre den ‚Ulysses‘. Es ist ein schönes Gefühl, dass es eine Menge Menschen gibt, die zur gleichen Zeit dieses großartige Kunstwerk anhören. Bitte machen Sie weiter so, lassen Sie weitere Projekte folgen."
Keine Angst vor diesem "Ulysses" also, auch wenn dieses Werk von James Joyce nichts weniger ist als der Roman der literarischen Moderne katexochen. 1922 erschien er in der Pariser Buchhandlung Shakespeare & Company der US-Amerikanerin Sylvia Beach, nachdem andere Verlage das Werk wegen seiner obszönen Passagen abgelehnt hatten. Joyce erzählt in 18 Kapiteln die Geschichte des 16. Juni 1904, von acht Uhr morgens bis weit nach Mitternacht. Es entsteht das Porträt der irischen Stadt am Meer mit ihren Orten und Menschen.
Humor, Witz und sprachliche Schönheit
Der Roman folgt wie ein Kartograf den Wegen vieler Menschen, aber vor allem dreier Protagonist/innen: des Jesuitenzöglings und jungen Schriftstellers Stephen Dedalus, des 40-jährigen jüdischen Annoncenakquisiteurs Leopold Bloom und seiner untreuen Frau Molly.
Aber der Ulysses ist nicht nur der Roman eines Tages oder der Roman einer Stadt, er ist der Roman einer Epoche, der literarischen Moderne. Joyce führt die sprachlichen und stilistischen Möglichkeiten des Erzählens vor, mit denen Wirklichkeit gespiegelt und literarisch konstruiert werden kann. Jedes der Kapitel, die er im Roman weder betitelte noch nummerierte, die aber in den Konstruktionsskizzen Gesangskapiteln aus Homers "Odyssee" zugeordnet wurden, hat seine eigene literarische Technik und rhetorische Figur. Damit spannt Joyce den Bogen von Homers "Odyssee" bis zu Dublins Bürgerinnen und Bürger zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
In zahllosen Anspielungen und Zitaten leuchten Spuren der Mythologie und Geschichte, der Philosophie und Literatur, der Kunst, Musik und Wissenschaft seit der Antike auf. Der literaturgeschichtliche Stellenwert des Romans hat jedoch viel Respekt aufgebaut und dadurch die Lektüre eher gehemmt denn befördert. Das Ergebnis: Als Buch steht der "Ulysses" in zahlreichen Regalen, oft aber nur an- oder schlechterdings ungelesen. Dabei ist, wie der Joyce-Kenner Fritz Senn immer wieder betont, dieses literarische Meisterwerk voll Humor und Witz, sprachlicher Schönheit, Musikalität und nachvollziehbarer Storys. Den Menschen als sexuelles Wesen beschreibt Joyce tabulos auf explizite und abgründige wie charmante und dezente Weise.
18 Kapitel als 18 in Form und Stil unterschiedliche Hörspiele
Klaus Buhlerts Hörspielfassung bietet eine Lesart an, die den "Ulysses" einem größeren Publikum nahebringt, ohne seinen Gehalt und seine Komplexität zu unterschlagen. Bertolt Brecht wies lakonisch wie hintergründig für diese Herkules-Arbeit im Hörspiel den Weg:
Bertolt Brecht
"Das Buch habe ich von ganz intelligenten Lesern wegen seines Realismus loben hören. (…) Ich gestehe, dass ich über den 'Ulysses' (trotz seiner zahlreichen Manierismen) beinahe ebenso gelacht habe als über den 'Schwejk', und für gewöhnlich lacht unsereiner nur bei realistischen Satiren."
Ob Joyce eine Satire geschrieben hat, sei dahingestellt. Brecht betont den Realismus und den Unterhaltungswert des Romans und stellt ihn vom Kopf auf die realistischen wie bodenständigen Füße. Das Hörspiel versucht, den Roman in seinen Bedeutungsebenen akustisch erfahrbar zu machen, ohne unstatthaft zu vereinfachen, aber auch ohne in weihevollem Purismus zu erstarren. Die einzige originäre Radiokunst, das Hörspiel, kann das auf eine sinnlichere Weise als vielleicht eine auf Vollständigkeit und Richtigkeit angelegte Lesung des Textes. Ihre Mittel: inszenatorische Verlebendigung und Dechiffrierung, Staffelung des akustischen Raums zur Verdeutlichung von Erzählhaltungen und -perspektiven, Vernetzung der Motive.
Es verstand sich aber von selbst, dass die Hörspielfassung der Vorgabe folgt: am Originaltext entlang; kein Wort, das nicht von Joyce stammt bzw. aus der kongenialen Übersetzung von Hans Wollschlager aus dem Jahr 1975. 18 Kapitel sind zu hören als 18 in Form und Stil unterschiedliche Hörspiele à 45 bis 120 Minuten. Natürlich sollte und wollte gekürzt werden. Die Kürzungen sind jedoch keiner Sendeformatvorgabe geschuldet, sondern stehen ganz im Zeichen der Brecht‘schen Zielvorgabe. Sie zielen auf eine Verdeutlichung nach verständnis- und spannungsdramaturgischen Überlegungen, die sich aus der Logik des Textes entwickelten und die unumkehrbare Linearität des Akustischen berücksichtigten. Die akustische Welt ist eine selbstständige. Sie tritt nicht in Konkurrenz zum Akt des Lesens, sondern ist eine Übertragung des "Ulysses" in ein anderes Kunstmedium. Das alles war natürlich nur umsetzbar über Buhlerts akustische Bearbeitungsstrategie, die dazu Musik und Geräusche für eine sinnliche Inszenierung und Motivverknüpfung nutzt.
Aber auch Klaus Buhlert kommt nicht ohne sie aus: die Schauspieler. Die Besetzung liest sich, als würde ein Stück bei den Salzburger Festspielen aufgeführt: Manfred Zapatka, Birgit Minichmayr, Corinna Harfouch, Jens Harzer, Jürgen Holtz, Thomas Thieme, Milan Peschel … Nebst einer Entdeckung: Der Filmschauspieler Dietmar Bär aus dem Kölner "Tatort" zeigt bravourös in der Rolle des Leopol Bloom, woher er kam: vom Theater.
Text: Manfred Hess, SWR2-Chefdramaturg
Service
Eine Produktion des SWR/DLF 2012
James Joyce, "Ulysses", Hörbuch, gelesen von Corinna Harfouch, Dietmar Bär, Manfred Zapatka u.a., 24 CDs, der Hörverlag