Von Irene Heidelberger-Leonard

Imre Kertész - Leben und Werk

Die Herausgeberin der gesammelten Werke Jean Amerys, die in London lebende Germanistin und Literaturwissenschaftlerin Irene Heidelberger-Leonard, hat eine erste zusammenfassende und zusammenführende Dokumentation über Leben und Werk des 2016 verstorbenen Literaturnobelpreisträgers verfasst.

"Eine solide Einführung in den Kosmos des Kertészschen Nachdenkens und Selbstobjektivierens"

Nicht zu lügen im alltäglichen Leben, nicht zu lügen in extremen Situationen, sich nicht selbst zu belügen beim Erinnern, und schließlich nicht zu lügen bei der Niederschrift des Erlebten. Für den ungarischen Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Imre Kertész, der als jüdischer Jugendlicher in die Nazi-Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald verschleppt worden war und danach den sogenannten "realen Sozialismus" in all seinen brutalen aber auch absurden Facetten durchlebt hatte, um sich schließlich in einem EU-Ungarn wiederzufinden, dessen Machthaber nicht nur Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus tolerieren sondern auch gleich die "illiberale Demokratie" als ideale Staatsform ausrufen - für Imre Kertész, diesen herausragenden Autor und Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts, ist dieses Erlernen der Wahrhaftigkeit Credo und Lebensaufgabe zugleich.

Service

Irene Heidelberger-Leonard, "Imre Kertész - Leben und Werk", Wallstein Verlag

Bis Mitte der 1990er Jahre war Kertész ein Geheimtipp in der europäischen Literatur gewesen. Zwar waren unmittelbar nach dem Zusammenbruch des real existiert habenden Sozialismus erste Bücher von ihm ins Deutsche übersetzt worden, ein breiteres Publikum fand er aber erst 1996 mit einer Neuübersetzung seines unbestrittenen Hauptwerks: "Roman eines Schicksallosen". Mit dem literarischen Kunstgriff seine Erlebnisse als jugendlicher KZ-Häftling in Auschwitz aus einer jugendlich-naiven Perspektive zu reportieren, hatte Kertész eine neue Form der literarischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust gefunden. Für ihn die einzig mögliche, wie man dem begleitenden und ebenfalls herausragenden Werk- und Lebensjournal mit dem Titel "Galeerentagebuch" entnehmen konnte.

Es folgten weitere Bücher, Erzählungen, Aufsätze, Romane auch über die Zeit nach 1945, und Kertész zeigte sich in seinen Schriften als außerordentlich belesener Zeitgenosse, der seinen Goethe und seinen Kafka ebenso gut kannte wie seinen Sartre, seinen Beckett oder auch den Thomas Bernhard. In Interviews und Gesprächen präsentierte sich jener Mann, der die Schrecken des vergangenen Jahrhunderts am eigenen Leib erlebte und knapp überlebte, als außerordentlich liebenswürdig und tiefgründig in einem. Das 20. Jahrhundert nannte er eine "ständige Hinrichtungsmaschine" und die Determinante der Kunst war für ihn nicht mehr die klassizistische Bewunderung sondern der abgrundtiefe Ekel, den es literarisch zu bannen galt. Adornos später von ihm selbst widerrufenen Verdikt von der Unmöglichkeit nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, entgegnete Kertesz mit dem Imperativ, dass man sehr wohl Gedichte nach Auschwitz schreiben könne, allerdings nur über Auschwitz.

Mitte der 1990er Jahre, der immer noch in Budapest lebende Imre Kertész war schon in seinen späten Sechzigern, setzte auch ein Reigen nationaler und internationaler Ehrungen und Preise ein, der seinen Höhepunkt 2002 mit der Verleihung des Literaturnobelpreises fand. Es folgten weitere Veröffentlichungen, insbesondere die Tagebücher der Jahre 2001 bis 2009, in denen der Schriftsteller in Berlin gelebt hatte. Erschienen sind sie unter dem Titel "Letzte Einkehr".

Der Stolz über den Nobelpreis, über das internationale Renommee seines Trägers weicht rasch einer skeptischen Ernüchterung bis hin zur quälenden Verzweiflung. Dazu kommt eine schwere Krankheit. Jenes Interview, das der wieder in Budapest lebende Imre Kertész der deutschen Wochenzeitschrift "Die Zeit" vor bald zwei Jahren gegeben hat, liest sich wie ein grausames Dokument der absoluten Niederlage: Der Nobelpreis habe ihn vernichtet, er sei zur Marke Kertész geworden, ein "Holocaust-Clown" inmitten einer regelrechten Gedenkindustrie. Es sei genug, er wolle und könne nicht mehr schreiben. Sein einziger Fehler, so das erschütternde Fazit dieses Gesprächs, sei der, dass er nicht zur rechten Zeit über seinen Tod verfügt habe.