Die "Café Sonntag"-Glosse von Julya Rabinowich

Wunderland revisited

Eine Nacherzählung zu Zeiten von Schlepperprozessen.

Wenn man Tagträume als kleine Fluchten aus dem Bekannten betrachtet, dann ist die Reise von Alice ins Wunderland ein Paradebeispiel der großen phantastischen Migration, ja eigentlich einer ganz und gar illegalen Migrationsbewegung ins Ungewisse. Wäre Alice übrigens heute zu ihrer Reise aufgebrochen, hätte man nicht nur sie mit der erstbesten Gelegenheit wieder aus dem Wunderland abgeschoben - schließlich ist der Kaninchenbau voll - sondern auch noch das weiße Kaninchen durch alle Instanzen eines absurden Prozesses gejagt - als mutmaßlicher Schlepper.

Als Schlepper agiert das weiße Kaninchen übrigens nicht nur chronisch unzuverlässig, sondern leidet dabei auch noch unter gewisser Zwänglichkeit. Allem Anschein nach handelt es sich bei diesem zwielichtigen Subjekt nur um einen kleinen Fisch, der höheren Bossen zuarbeitet, die sich geschickt im Hintergrund halten und an die man nicht so leicht herankommt: klar mafiöse Strukturen jedenfalls. Immerhin beherrscht die Geschleppte wenigstens die Landessprache, was auf eine Wirtschaftsflucht hindeutet.

Alice, die statt zu Hause zu bleiben und die Probleme dort vor Ort an der Wurzel anzupacken, lieber ihren Alltag verlässt, muss sich mit einem atemberaubenden Sturz mitten in eine neue Welt fallen lassen. Diese Welt ist nicht mit jener vergleichbar, die sie verlassen hat. Hier gilt es für die kleine Migrantin, sich möglichst schnell auf die Anforderungen des Wunderlandes einzustellen: Nichts ist, wie es scheint, und die meisten Begegnungen bergen nur noch größere Verwirrungen und Verirrungen, was eigentlich nur mit ihrer Integrationsunwilligkeit erklärt werden kann.

Der Hutmacher und der Märzhase wissen leidvolle Erfahrungen von ihrem Zusammentreffen zu berichten - das ungezogene Mädchen ist nicht einmal bereit, keinen Geburtstag zu feiern, was das Mindeste an hiesigem Anstand und dem Respekt gegenüber althergebrachten Traditionen gebieten würde. Andererseits ist Alice ein Paradebeispiel dessen, was Migrierende erwartet: Sie betritt eine Fremde, die ihr nach und nach vertrauter wird, deren Gesetze und Gepflogenheiten anfänglich nicht klar sind, deren Macht-und Freundschaftsverhältnisse erst durch bitteres Grenzenausloten erfahren werden müssen, und oft genug wird die Neuankommende Teil absurder Gerichtsverhandlungen und Beschuldigungen. So gesehen ist die Geschichte ihrer Flucht doch wieder recht realistisch.