Der Mythos von Galizien

Über 120 Jahre war Krakau eine österreichische Stadt, als Teil des Kronlandes Galizien. Dort lebten Polen, Ukrainer und Juden. Für sie hat die Erinnerung an Galizien ganz unterschiedliche Bedeutungen, wie der Schriftsteller Martin Pollack beschreibt.

Verfallenes Haus in Krakau

Die Armut in der Region war sprichwörtlich – das „galizische Elend“ war ein fixer Begriff.

HEIKE POSSERT

Galizien, Galicja, Halytschyna, so der deutsche, polnische und ukrainische Name des größten, östlichsten und auch ärmsten Kronlands der Habsburgermonarchie. Österreicher, Polen und Ukrainer, damals meist Ruthenen genannt, erlebten das Königreich Galizien und Lodomerien, wie der offizielle Name hochtrabend lautete, unterschiedlich: Für Österreicher blieb Galizien meist fremd, auch wenn sie als Beamte oder Militärs dort dienten. Polen und Ukrainer waren in diesen Gebieten zu Hause, die in Ost- und Westgalizien zerfielen, in die Verwaltungsgebiete Lemberg und Krakau. Diese Trennung konnte nie ganz überbrückt werden und schlägt sich in den unterschiedlichen nationalen Galizien-Mythen nieder. Dementsprechend divergierend, oft gegensätzlich sind die heutigen Sichtweisen, der polnische Mythos unterscheidet sich vom ukrainischen, und dieser wiederum vom österreichischen. Sie transportieren unterschiedliche historische Erinnerungen, Inhalte und Ideen.

Man könnte, ja, man müsste noch die jiddische Bezeichnung für diese Gebiete erwähnen: Galizie. Denn dort lebten insgesamt zirka 10 Prozent Juden, in Ostgalizien mehr als im westlichen Teil. Die Galizianer, wie die galizischen Juden genannt wurden, waren keine homogene Gruppe, sondern zerfielen in verschiedene Strömungen, da gab es fromme Chassidim und Assimilanten, Zionisten und Sozialisten. Gemeinsam war den meisten die Verehrung für die väterliche Figur von Kaiser Franz Joseph, der schützend die Hand über "seinen" galizischen Juden hielt, um sie vor den schlimmsten Auswüchsen des Antisemitismus, blutigen Pogromen, zu bewahren, wie sie ihre Glaubensgenossen im benachbarten Russland erleiden mussten. Das erklärt die überragende Bedeutung der Figur des guten Kaisers für den jüdischen galizischen Mythos.

Auch im polnischen Mythos kommt dem Kaiser eine zentrale Rolle zu, wie ein Gang durch Krakauer Cafés und Kneipen beweist. Gospoda c. k. Dezerter (Wirtshaus k. k. Deserteur), Pod złotą Pipą (Zur Goldenen Pfeife), Hawełka, Sukiennice, Restauracja Galicja, C. k. Browar (K. k. Brauerei), Kaiserbilder und anderer kakanischer Kitsch, so weit das Auge reicht. Wann immer ich nach Krakau komme, entdecke ich neue Lokale, wo mir der alte Prohaska, wie der Kaiser liebevoll-ironisch genannt wurde, von den Wänden oder den Speisekarten entgegenlächelt. An der Verkitschung Galiziens wird in der alten polnischen Königsstadt eifrig gearbeitet.

Wichtiger als der Kaiser, freilich weniger dekorativ, ist für Polen die Konzeption von Galizien als polnischem Piemont, die ebenfalls in den Mythos einfloss. Die Region Piemont, Zentrum des Risorgimento, der italienischen Einigungsbewegung, wurde zum Vorbild nationaler Unabhängigkeitsbestrebungen. Auch für die Polen, die in Galizien mehr Freiheiten genossen als ihre Landsleute in den anderen Teilungsgebieten. Das nützte die polnische Elite, um auf das große Ziel hinzuarbeiten, Polen wieder als starken Nationalstaat auf die Landkarte zu setzen.

Als Piemont wurde Galizien auch von vielen Ukrainern gesehen. Diese Metapher geht auf den ukrainischen Historiker Michajlo Hruschewskyj zurück, der Galizien ein geistiges Piemont der ukrainischen Bewegung nannte. Unter den Habsburgern genossen auch die Ukrainer politische und kulturelle Freiheiten, die ihnen in Russland verweigert wurden. Für die Entwicklung der ukrainischen Nationalbewegung, der ukrainischen Kultur, der ukrainischen Literatur war daher Galizien von großer Bedeutung, obwohl die Ukrainer hier unter dem Kuratel der Polen standen. Seit den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts verfügten die Polen in Galizien über eine weitgehende Autonomie, die ihnen die Vorherrschaft in der Politik, der Verwaltung und der Wirtschaft bescherte. Die daraus resultierenden Konflikte entluden sich nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie, der auch Galizien von den Landkarten fegte, in einem blutigen Krieg um Lemberg, den zunächst Polen für sich entschied. Für die Ukrainer bedeutet Galizien also, trotz aller Sympathien, auch Unterdrückung und bittere nationale Niederlage.

Die nationalen Galizien-Mythen weisen zahlreiche Ähnlichkeiten auf, aber auch gravierende Unterschiede. Der ukrainische Publizist und Kulturwissenschaftler Taras Wozniak spricht in diesem Zusammenhang von drei getrennten mythologischen Narrationen. Man sollte noch die jüdische Narration hinzufügen, die vor allem in der galizischen Literatur ihren Ausdruck fand.

(Text: Martin Pollack)