Neu im Kino: "Atlantic"
300 Kilometer trennen den Windsurfer Fettah in Marokko auf dem Seeweg nach Europa. 300 Kilometer, die ein neues Leben bedeuten könnten. In einem überaus sinnlichen Bilderfluss erzählt der holländische Regisseur Jan-Willem van Ewijk in seinem Film "Atlantic" von den Träumen eines jungen Mannes, aber auch von den Entbehrungen, die die Flucht aus der Heimat mit sich bringt.
27. April 2017, 15:40

THIMFILM
In der Hauptrolle ist mit dem mehrfachen marokkanischen Windsurf-Meister Fettah Lamara ein Laiendarsteller in seinem Spielfilmdebüt zu sehen.
Kulturjournal, 11.8.2015
Da sind sie wieder: die Freunde aus Europa. Jedes Jahr kommen sie an die marokkanische Küste zum Windsurfen, jedes Jahr wohnen sie bei der Familie des Marokkaners und leidenschaftlichen Surfers Fettah, und jedes Jahr haben sie das neueste Surf-Equipment dabei. Und jedes Jahr fahren die Freunde auch wieder weg und hinterlassen in Fettah wehmütige Gefühle. Zurück bleiben eine harte Lebenswirklichkeit als Fischer und eine ungestillte Sehnsucht: Europa, der Sehnsuchtskontinent. Auch Fettah will dorthin.
"Die Leere wollten wir einfangen"
Im Kontext aktueller Nachrichten aus dem Mittelmeer eigentlich ein aufgelegtes politisches Szenario, könnte man meinen, doch daran ist der holländische Regisseur Jan-Willem van Ewijk nicht primär interessiert. "Ich bin ja selbst ein Windsurfer und oft in dem Dorf gewesen, wo wir den Film gedreht haben. Im Sommer herrscht dort eine ungemein lebhafte Stimmung, doch als ich im Winter hinkam, als keine Touristen dort waren, dominiert ein Gefühl der Abwesenheit. Genau diese Leere wollten wir im Film einfangen."
Fast dokumentarisch blickt van Ewijk auf den Alltag im Dorf, auf Familienbeziehungen, auf die zunehmend materiell schwierigen Lebensumstände, nicht zuletzt weil das Meer leergefischt ist. Doch der Film macht auch den Zusammenhalt unter den Menschen deutlich: Ein immaterieller Reichtum, der sich in gemeinschaftlichem Feiern manifestiert.
Und dennoch bekommt Fettah Europa nicht aus dem Kopf; schon gar nicht, als er sich in die blonde Frau seines europäischen Surf-Freundes verliebt. Eine scheue Liebe, die Regisseur van Ewijk in subtilen Andeutungen und zaghaften Blicken einfängt, dann wieder in fast verklausulierten Dialogen, etwa wenn Fettah vom Ertrinkungstod seiner Mutter erzählt.
300 Kilometer auf dem Surfbrett sind es nach Europa
Regisseur Jan-Willem van Ewijk schickt seinen Protagonisten gleich zu Beginn in das gefährliche Abenteuer. In Rückblenden fächert sich die spärliche Handlung auf. Ohnehin geht es hier aber um das Schaffen von Atmosphäre: um Lebensgefühle im Taumel des Umbruchs, zwischen Liebesschmachten, möglicher Freiheit, Sehnsucht und der Angst vor der Ungewissheit.
Zu bizarr-schönen Wolkenformationen, zu Luftbildern von Meeresströmungen und zum Rauschen der Wellen hört der Kinozuseher aus dem Off die Poesie eines Zerrissenen, bisweilen an der Grenze zum Kitsch: "Stell dir vor dass du fliegst, wenn du einsam bist", lautet die Botschaft an die kleine, zurückgelassene Nichte, "du fliegst wie ein Vogel hinaus über den Ozean. Dort wird es dann still, und ich werde bei dir sein."
Vorbild Terrence Malick
Regisseur van Ewijk setzt auf Sinnlichkeit, weiß um die Schauwerte der Natur Bescheid, verleiht ihr quasi Fetischcharakter und eifert damit einem seiner Vorbilder nach. Stimmt schon, meint Van Ewijk, an den Stil von Terrence Malick habe er sich schon ein wenig angelehnt.
Auch wenn Regisseur van Ewijk den politischen Aspekt seiner Geschichte weitegehend außen vor lässt, so ist er dennoch stets präsent: als Lebensgefühl, einem Ort zu entfliehen, der - Krieg hin oder her - kaum eine Perspektive verspricht.