Kurzessay zu Jesaja 50, 5 – 9a

Im Buch Jesaja, einer der Prophetenschriften der jüdischen Bibel, die zur Gänze in das Erste Testament der christlichen Bibel übernommen wurde, im Buch Jesaja also finden sich die sogenannten „Gottesknechtlieder“.

Diesen „Gottesknecht“ haben Sie soeben sprechen gehört. Er ist ein unschuldiger Mann, hässlich und von Seuchen geplagt, und ihm wird Gewalt angetan. Er wird beschrieben als das Opferlamm, das für die Sünden des bösen Teils seines Volkes geopfert wird. Und doch: Er ist sich der Hilfe und Rettung Gottes gewiss. Das hilft ihm, Schmähungen und Schmerz, Demütigung und Gewalt zu ertragen.

Die „Gottesknechtlieder“ gehören zu jenen biblischen Texten, die durch eine einseitige christliche Auslegung dem jüdischen Volk lange Zeit geraubt waren, denn seit der Frühzeit des Christentums wird der leidende Gottesknecht ausschließlich mit Jesus von Nazareth identifiziert.

Nun interpretiert bereits der Evangelist Matthäus das Leiden und Sterben des Jesus von Nazareth mit diesem Motiv. Das ist eine durchaus legitime Deutung, zumal auch Jesus aus dem gleichen jüdischen Glauben gelebt hat wie dieser Gottesknecht. Die Vorstellung, dass ein Unschuldiger durch seine Leiden stellvertretend die Sünden seiner Mitmenschen sühnen kann, ist jüdischen Ursprungs.

Christen haben sich diese Vorstellung angeeignet und das jüdische Volk für den Tod des Jesus von Nazareth verantwortlich gemacht. So wurden sie Wegbereiter der Verfolgung, Unterdrückung und Ermordung von Juden. Wie zynisch muss die christliche Deutung der Gottesknechtlieder in den Ohren von Juden bis heute klingen?

Gleichwohl spielten und spielen diese Texte für Juden eine wichtige Rolle in der Deutung der eigenen Leidensgeschichte. Die rabbinische Tradition identifiziert den Gottesknecht mit dem Volk Israel. Gottes unschuldiger Knecht leidet, weil im Volk Israel Gottes Gebote mit Füßen getreten werden, insbesondere durch Götzendienst. Aber die, die ihm Gewalt antun, sind die Eroberer: Zu Zeiten des Jesaja waren das Assyrien und Babylon, später die Verfolger im christlichen und islamischen Raum und letztendlich die Nazis. Der Gottesknecht Israel leidet an und mit den Schuldigen. In den Reformsynagogen Großbritanniens gibt es am höchsten Feiertag der Juden, dem Jom Kippur, also in 10 Tagen, folgendes Gebet: „Wir erinnern uns an den unbekannten Gottesknecht, dessen Schicksal an das Schicksal unseres Volkes erinnert.“

Juden finden in den Gottesknechtliedern Kraft und Trost: Gott ist den Leidenden in besonderer Weise nahe.

Christen müssen erkennen, dass ihre Vorfahren dem Gottesknecht Israel Gewalt angetan haben. Sie können aber auch lernen, wie man in größter Not dem Bösen selbstbewusst und aufrecht ins Auge schauen kann, wenn man sich Gottes Wort öffnet. Das Böse verschwindet dann nicht gleich oder vielleicht auch gar nicht, wie man an der Geschichte des jüdischen Volkes sieht. Aber vielleicht kann im Vertrauen auf Gottes Anwesenheit und Rettung und dem daraus folgenden Verzicht auf Rache die Spirale von Gewalt unterbrochen werden. Das wäre dann auch eine Dimension jener Erlösung, die Jesus von Nazareth verheißt.