Kurzessay zu Markus 9, 30 – 37

In der jüdischen Tradition wird erzählt, dass Gott den Israeliten erst dann die lebensspendende Weisung, die Tora, auf dem Berg Sinai gab, als sie bereit waren, ihre eigenen Kinder und Säuglinge als Bürgen anzugeben.

Die Kinder bürgen für ihre Eltern. Sie nehmen es auf sich zu lernen und zu studieren, die Tora zu halten und nach ihr zu leben. Nur so, heißt es, könne Israels Weg mit Gott gelingen.

Diese Tradition erinnert mich sehr an das an diesem Sonntag gelesene Evangelium. Das unschuldige Kind trägt Jesus gewissermaßen in sich. Wie die Tora ist Jesus Mittler zu Gott. Hier geht es also nicht in erster Linie darum, dass das Kind symbolisieren soll, wie bescheiden und selbstlos Menschen handeln und denken sollen, sondern um die Mittlerschaft zu Gott.

Der Streit der Jünger über die Vorherrschaft hat aber damit zu tun. Auch hier erinnert mich die Szene wieder an die schon genannte jüdische Tradition. Die Kinder werden als Bürgern akzeptiert, weil sie anders als die Elterngenerationen unschuldig sind. Auch die Jünger Jesu bezeugen durch ihren Streit, dass sie sich falsch verhalten, dass sie nichts von dem verstehen, was Jesus lehrt und welches Schicksal ihm bevorsteht. Die Lehre Jesus handelt vom Sterben und der Auferstehung des Menschensohnes. Ohne Zweifel ist damit im Evangelium er selbst gemeint.

In gewisser Weise erstreckt sich der Begriff aber auch auf die Jünger, auf die Verfolgung und das Schicksal der Gemeindemitglieder, die für den Glauben ihr Leben geben. Dem widerspricht das ehrgeizige Bemühen um den Vorrang innerhalb der Gemeinde. Der Kampf um Macht und Posten ist die irdische Realität der Gemeinde, der leidende und auferstandene Jesus als Mittler zu Gott unverstandene und unverständliche Lehre. Die unschuldigen Kinder aber streben nicht nach Macht. Sie tragen das unverfälschte Potenzial der Gottesherrschaft in sich. Das Aufnehmen der Kinder um Jesu willen steht der jüdischen Bürgschaft der Tora immens nahe. In beiden Ansätzen steckt die Vorstellung, dass die Beziehung zu Gott über die Kinder weitergegeben wird, dass sie es sind, die einen begehbaren Pfad zu Gott legen.

Beide Male bürdet man den Kindern etwas auf. Während in der jüdischen Tradition die Kinder in der Tora unterrichtet werden müssen, damit der Glaube nicht verloren geht, fordert das Evangelium die Aufnahme der Kinder im Namen Jesu, also im Grunde nichts weniger als eine christliche Erziehung. In ihr sollte das Bewusstsein geschärft werden, dass die Botschaft vom Menschensohn nicht von Machtpositionen handelt, die man erklimmen soll, sondern von der Bereitschaft, in der Nachfolge Jesus Leiden zu ertragen.