Caparrós' aufwühlendes Buch "Der Hunger"
Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. Die vielen Gesichter und Schicksale hinter dieser nüchternen Zahl beschreibt der argentinische Schriftsteller und Journalist Martín Caparrós in seinem aktuellen Buch "Der Hunger", das nun in der deutschen Übersetzung erschienen ist. Gestern Abend stellte er das über 800 Seiten starke Werk im Wiener Kreisky Forum vor.
8. April 2017, 21:58
Morgenjournal, 18.11.2015
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Martín Caparrós, "Der Hunger - 'Wie zum Teufel können wir weiterleben, obwohl wir wissen, dass diese Dinge geschehen?'", aus dem Spanischen von Sabine Giersberg und Hanna Grzimek, Suhrkamp
Originaltitel: "El hambre", Planeta
"Hunger ist ein Klischee in der westlichen Welt", sagt der argentinische Schriftsteller Martín Caparrós, "ein abstrakter Begriff, dessen realer Hintergrund für viele gar nicht vorstellbar ist."
Konkrete Gesichter hinter abstraktem Phänomen
Jeder achte oder neunte Mensch auf der Welt leide Hunger, allerdings, so Caparrós: "Nie ist jemand darunter, den wir persönlich kennen, nie sind es Freunde oder Arbeitskollegen, sondern diese Menschen sind weit weg von uns, und das macht es uns so leicht, wegzuschauen." Martín Caparrós gibt dem abstrakten Phänomen ganz konkrete Gesichter und Geschichten. Fünf Jahre lang führte ihn seine Recherchereise rund um die Welt, in indische Slums, nigerianische Dörfer oder auf argentinische Müllhalden. Überall begegneten ihm chronisch unterernährte Erwachsene und Kinder. Caparrós lebte mit ihnen, hörte zu und stellte allen irgendwann dieselbe Frage: "Wenn dir ein Zauberer jeden Wunsch erfüllen könnte, was hättest du gerne?"
Sehnlichster Wunsch: satt werden
Die Antworten waren verblüffend und traurig zugleich, so der Autor: "Am meisten überraschte mich die Antwort von Aisha aus Niger - sie wünschte sich eine Kuh. Und ich sagte: 'Nein, ich meine, wenn du dir wirklich jeden Wunsch erfüllen könntest, was wäre es?' - Und sie fragte schüchtern, ob es auch zwei Kühe sein dürften. Da merkte ich, dass das Elend diesen Menschen nicht nur das Lebensnotwendigste raubt, sondern auch die Fähigkeit, über einen sehr eingeschränkten Horizont hinaus zu denken und zu träumen. Andererseits: Zwei Kühe würden für diese Frau tatsächlich bedeuten, dass sie nie mehr hungern müsste, und das ist enorm für jemanden, der nicht weiß, was er morgen essen wird."
Die fünfjährige Noelia aus Argentinien wiederum wünschte sich, einmal bei McDonalds zu essen, und zwar drinnen im Lokal und nicht, wie sonst, draußen aus den Mülltonnen.
Globale Zusammenhänge hinter den Schicksalen
Diesen persönlichen Eindrücken und Erlebnissen stellt der Autor Statistiken und nüchterne Analysen über wirtschaftliche Zusammenhänge in der globalisierten Welt gegenüber. "Ich dachte, wenn ich mich auf diese Geschichten beschränkte, würde nur eine Art Pornografie der Misere herauskommen", so der Autor, "also habe ich sie durch konkrete Zahlen und Daten ergänzt. Das Schwierigste an dem Buch war, die komplexen Zusammenhänge und Ursachen der aktuellen Wirtschaftsordnung zu verstehen, zum Beispiel wenn es um die Spekulation mit Lebensmitteln an der Börse geht. Ich weiß gar nicht, ob ich es wirklich schon verstanden habe, aber ich versuche es immer noch."
Caparrós deckt gängige Euphemismen, Floskeln und verlogene Machtstrukturen auf, wie zum Beispiel die Tücken der "Humanitären Hilfe", bei der scheinbar großzügige Nahrungsmittelspenden mit Uran und anderen Bodenschätzen teuer erkauft werden.
Spenden allein reicht nicht
Auch private Hilfsinitiativen seien keine langfristige Lösung, so der Autor: "Spenden ist gut und löblich, aber es hilft zugleich, ein ungerechtes System aufrecht zu erhalten, in dem einige so viel haben, dass sie sogar ein wenig davon abgeben können, während andere vor Hunger sterben. In Wahrheit braucht es eine komplette Umverteilung des Reichtums und eine neue Form des Wirtschaftskreislaufs."
"Der Hunger" ist in der deutschen Übersetzung von Sabine Giersberg und Hanna Grzimek bei Suhrkamp erschienen. Es ist ein aufwühlendes Buch mit einprägsamen subjektiven Erlebnissen auf der einen und profund recherchierten Hintergrundinformationen auf der anderen Seite. Und mit einer unmissverständlichen Botschaft: Wenn aktuell 900 Millionen Menschen Hunger leiden, während die Welt problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren könnte, dann ist das keiner Naturkatastrophe, sondern ausschließlich menschlichem Versagen geschuldet.