Venezuela am Tiefpunkt

Als der venezolanische Staatschef Hugo Chavez 2006 zu Besuch in Wien war, war er noch der umjubelte Star der lateinamerikanischen Linken. Gemeinsam mit seiner sozialistischen Partei krempelte er damals das erdölreiche Land um, begründete den 'Chavismus', benannt nach ihm selbst. Er verstaatlichte Schlüsselsektoren, finanzierte aus den hohen Erdölgewinnen umfassende Sozialprogramme. Jetzt, fast drei Jahre nach seinem Tod, ist sein Land am Tiefpunkt.

Mittagsjournal, 11.12.2015

Aus Caracas,

Rezession, Inflation und Mangelwirtschat haben dem Land zugesetzt und die Venezolaner zermürbt. Und die sozialistische Partei verlor bei den Parlamentswahlen am vergangenen Sonntag das erste Mal seit 16 Jahren die Mehrheit im Parlament. Die Opposition bezeichnet den "Chavismus", den "Sozialismus des 21.Jahrhunderts", bereits als gescheitert. Aber noch immer gibt es viele, die Hugo Chavez' Erbe bedingungslos verteidigen.

Santos Camacaro versteht die Welt nicht mehr. Er ist einer der Kommunenchefs von Petare, dem Armenviertel von Caracas, - ein stolzer Chavist durch und durch. Jetzt sitzt 48jährige in seinem mit Hugo Chavez Postern geschmückten Wohnzimmer und schaut ziemlich unglücklich: Wir haben hier in den vergangenen Wochen so viel gearbeitet, damit die Leute uns wählen. wir haben so viele Sachen verschenkt, Fleisch, Pensionszuschläge, Geschenke. Aber es war zu spät, um die Leute umzustimmen.

So wie in jedem anderen Wahlkreis in Caracas haben die Sozialisten auch in Petare all ihre Parlamentssitze verloren. Dabei war das Armenviertel einst eine Hochburg der Chavez-Anhänger. Wohnungen wurden geschaffen, die Ärzte behandelten gratis, Lebensmittel wurden subventioniert. Dafür zeigten sie sich 16 Jahre lang dankbar. Bis jetzt: Als militanter Chavist blutet mir das Herz, sagt Camacaro enttäuscht. Ich weiß schon, dass es viele Probleme gibt. Die vielen Morde, die leeren Supermärkte. Aber das ist nicht die Schuld der Regierung, sondern die krimineller Banden und der Bourgeoisie. Warum verstehen die Leute das nicht? Chavez war doch immer für sie da!

Hugo Chavez - auch fast drei Jahre nach seinem Tod dreht sich in Venezuela alles um ihn. Kein Fernsehauftritt des Präsidenten ohne eine Anekdote über den Comandante, keine Rede ohne Zitat, keine 100 Meter Hauswand in Caracas ohne sein Abbild. Hugo Chavez sei immer noch das Zugpferd der Regierung, sagt der venezolanische Politologe Oscar Ramirez. Er ist eine esoterische, magische Figur, die auf religiöse Art und Weise verehrt wird.

Ohne Hugo Chavez, ist Ramirez überzeugt, hätten die Sozialisten bei den Parlamentswahlen noch schlechter abgeschnitten. Denn nur mehr jeder fünfte Venezolaner unterstützt Präsident Maduro. Während Chavez selbst als Verstorbener Beliebtheitswerte von fast 45 Prozent hat: Ich habe Chavez gewählt, antwortet auch Leobaldo Oviedo aus Petare stolz auf die Frage, wem er am Sonntag seine Stimme gegeben hat. Aber im Gegensatz zu seinem Nachbarn Santos, ist der ehemalige Busfahrer nicht unglücklich über das Wahlergebnis: Ich bin ein wenig enttäuscht, was aus der Revolution geworden ist, gibt Leobaldo zu. Uns fehlt das Essen. Ich habe keine Arbeit mehr. Chavez war ein guter Präsident, aber seine Nachfolger sind leider schlecht. Doch dieses Entschuldigung reicht Doris Andara reicht nicht mehr: Die Chavisten haben uns nicht geholfen sondern uns nur noch ärmer gemacht! schimpft die 56-Jährige, die hier im Viertel allen als deklarierte Oppositionelle bekannt ist: Sie haben die Leute daran gewöhnt, Almosen zu bekommen. Aber das ist doch nur deshalb, weil sie wollen, dass wir alle arm bleiben. Damit wir ihnen weiterhin dankbar sein müssen für die Almosen.

Der Chavismus werde schon bald der Vergangenheit angehören, sagt Doris Andara. Erst Recht nach diesem Erdrutschsieg der Opposition. Unsinn, sagt Oscar Schemel vom regierungsnahen Meinungsforschungsinstitut Hinterlace: Der Chavismus ist eine politische Kultur, eine soziale, emotionale Identität, ein Gemeinschaftsgefühl. Das kann die Opposition nicht vorweisen, die ist nur für eine Proteststimme gut. Ihr fehlt diese Symbolkraft. Und deshalb wird sich der Chavismus bald wieder erholen.

Er werde auf jeden Fall weiter für den Chavismus, für Chavez kämpfen, betont Santos Camacaro, der Kommunenchef im Armenviertel Petare. Für das Wochenende hat er sich mit anderen Kommunenchefs zu einem Krisentreffen verabredet. Wir brauchen neue Ideen, neue Strategien, Lösungen, sagt er.
Denn auch der treue Santos Camacaro weiß: Venezuelas Chavisten können sich nicht ewig auf einen Verstorbenen verlassen.