Zum 150. Geburtstag von Rudyard Kipling

Am 30. Dezember 1865 wurde Rudyard Kipling in Mumbai als Sohn eines britischen Kolonialbeamten geboren. Derzeit ist dieser Autor vielen Neuübersetzungen wiederzuentdecken. Besonders der junge Kipling, der rasende Reporter aus Indien, ist eine Erkundung wert.

"Eine die Sinne schärfende vieldeutige und polyphone Erzählwelt mit Gespür für grandiose Landschafts- und Lebensbilder."

Fällt der Name Rudyard Kipling, hat vermutlich jeder "Das Dschungelbuch" im Sinn. Der Roman über den unter den Tieren des Urwalds aufgewachsenen Waisenknaben Mowgli erschien 1894 und ist ein Klassiker der Jugendliteratur. Vor allem deshalb, weil der Konflikt zwischen Zivilisation und Ursprünglichkeit, zwischen Kultur und Natur abgehandelt wird. Doch bei aller im Buch vorgebrachten Kritik an westlichen Werten scheiden sich an Rudyard Kipling die Geister. Einerseits gilt er als Repräsentant des British Empire, der zwar schöne Kinderliteratur zu Papier brachte, aber eben doch auch die Werte der englischen Herrenrasse vertrat, unduldsam und rassistisch. Andererseits nennen ihn viele bis heute einen britischen Nationaldichter, auf Augenhöhe mit Shakespeare und Dickens. Als Nichtbrite kann man sagen: Kipling war beides, ein großartiger Erzähler und ein Kind seiner Zeit.

Service

Rudyard Kipling in Neuausgaben und -übersetzungen:

"Von Ozean zu Ozean - Unterwegs in Indien, Asien und Amerika", aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Alexander Pechmann, 793 Seiten, Mare Verlag Hamburg, 2015

"Indische Erzählungen", aus dem Englischen von Irma Wehrli, 253 Seiten, Manesse Verlag Zürich, 2006

"Die späten Erzählungen", aus dem Englischen von Gisbert Haefs, 460 Seiten. S. Fischer Verlag Frankfurt Main, 2015

"Der Mann, der König sein wollte - Indische Erzählungen", aus dem Englischen von von Gustav Meyrink, 238 Seiten, Ripperger & Kremers Berlin, 2014

Im Laboratorium der Sinnlichkeit

Indien wie Kipling es sah, spürte und in seinem Roman "Kim" magisch und realistisch zugleich eingefangen hat, ist das Indien des 19. Jahrhunderts. Ein Indien schwelender sozialer und ethnischer Konflikte und ein Land, das vom britischen Empire mit harter Hand regiert und verwaltet wurde. Für den Autor war es die Quelle zahlloser Erzählungen, in denen er kolonialen indischen Alltag als Vexierspiel aus Realismus und Geisterwelt schwirrend-schön und irritierend zum Leben erweckt hat.

Kipling war zweifellos einer der besten Reiseschriftsteller des viktorianischen Zeitalters. Indien war sein Laboratorium der Sinnlichkeit, eine berauschende Welt, das genaue Gegenteil seiner vernebelten und stocksteifen Heimat. Auf den Spuren mit Kiplings journalistischer Spürnase lässt sich nun Kims pittoresk-verspielte frühe Heimat, einer Heimat längst vergilbter Zauberwelten, in den Reiseberichten ganz anders entdecken. Kipling konnte Schreiben wie kein Zweiter, mit allen Sinnen hat er sich den Subkontinent einverleibt und lässt uns nicht nur an den Farben und wunderlichen Erlebnissen teilhaben, sondern auch an den verstörenden Gerüchen.

Auch in seinem Spätwerk, das nun in einer Auswahl und in der Übersetzung des Kipling-Kenners Gisbert Haefs vorliegt, treffen wir auf Kipling als präzisen Beobachter gescheiterter Menschen: müde Veteranen, Gezeichnete des Ersten Weltkrieges. Hier ist Kipling ganz in der Abenddämmerung des Empires angelangt, das in seiner Indien-Prosa noch indigoblau schillerte. Prosa über Leben und Tod, über Mann und Weib, wie Kipling nüchtern festgestellt hat, und der sein eigenes Leben doch am liebsten im Dunklen belassen hat.