Comic - Literatur im Bild
Comics galten vor allem im deutschen Sprachraum lange Zeit nicht als anspruchsvolle Lektüre - und für manche hartnäckige Verfechter der Lesekultur gilt das wohl bis heute. In den letzten zehn bis 15 Jahren hat sich allerdings rund um das literarische Genre der "Graphic Novel" eine neue Fangemeinschaft gebildet. Die Umsetzung von autobiografischen, häufig sozialkritischen Themen auf belletristischer und grafischer Ebene findet wachsenden Zuspruch.
8. April 2017, 21:58

AFP/MYCHELE DANIAU
Der Lyriker und Übersetzer Steffen Jacobs sitzt am Küchentisch seiner Berliner Wohnung und blättert durch den vierhundert Seiten starken zweiten Band des „Graphic Canon", dessen deutsche Übersetzung kürzlich im Berliner Verlag Galiani erschienen ist. Weltliteratur im Comic Format, lautet das Konzept, Band 1 war den Anfängen bis zum 18. Jahrhundert gewidmet, Band 2 versammelt nun Werke des 19. Jahrhunderts, darunter Moby Dick und Goethes Faust, adaptiert vom Comiczeichner Flix.
Ein Blick in die Verlagsprogramme der letzten Saisonen zeigt: das Bildungsbürgertum hat Gefallen gefunden an dieser Gattung. Seine Eltern, sagt Jacobs, er ist Jahrgang 1968 und Spross einer bildungsbürgerlichen Familie, hätten über solche Lektüre noch energisch den Kopf geschüttelt. Und mit dieser Einstellung waren die Eltern Jacobs in guter Gesellschaft, weiß der Schweizer Christian Gasser, er ist Philologe, Kulturjournalist und Mitherausgeber der Comic-Zeitschrift "Strapazin".
Wurzeln im deutschen Sprachraum
Schon Gotthold Ephraim Lessing ordnete dem Wort und dem Bild jeweils ganz klar von einander getrennte Bereiche zu. Ausgerechnet im deutschen Sprachraum finden sich aber wichtige Pioniere, die einen "Bastard" - damals noch unter dem Titel Bildgeschichte - kultivierten. Zum Beispiel der Schweizer Rodolphe Töpfer Anfang des 19. Jahrhunderts. Auf diese Pionierarbeit folgte eine lange Epoche politischer und sozialer Veränderungen, die dem Genre alles andere als zuträglich waren.
Der Comic wurde in die Ecke des Trivialen verbannt und blieb dort vorerst einmal, vielleicht wegen seines etwas irreführenden Titels, mutmaßt Christian Gasser: "Comic - da schwingt natürlich immer das Wort komisch mit". Oder auch aufgrund der schlechten Übersetzungen aus dem Französischen und Englischen.
Bilder müssen gelesen werden
"Die Kunst des großen Comicautors ist, so wenig wie möglich zu schreiben. Dann bekommt man dieses Gleichgewicht zwischen Wort und Bild, das auf sehr wenig Platz eine sehr große Tiefe bewirken kann", sagt Christian Gasser. Um diese Tiefe zu erreichen, steht Comickünstlern eine Reihe von Ausdrucksmitteln und Erzählebenen jenseits des geschriebenen Wortes zur Verfügung: Mimik, Gestik, Körpersprache und Körperhaltung und der Einsatz von Farben und Perspektive werden zum Motor der ganzen Erzählung.
Das Bild sei Teil der Sprache, müsse genauso gelesen werden, betont Gasser - und das wirft vor allem bei erwachsenen Anfängern eine Reihe von Fragen auf. Christian Gasser erinnert sich zum Beispiel an seinen Vater: "Er war zwar ein glühender Tim und Struppi Fan, aber er musste zugeben, dass er zum Beispiel zu Asterix keinen Zugang fand."
Bedeutsame Lücken
Gerade, weil er einen anderen Umgang mit Zeit und Raum ermögliche und eine andere Lesekompetenz einfordere, als den linearen Leseprozess des Fließtextes, sei der Comic ein so spannendes Forschungsfeld für sie, ergänzt Elisabeth Klar. Sie selbst ist Jahrgang 1986, jung genug, um mit Comics aufgewachsen zu sein, wie sie sagt.
Ebenso bedeutend wie die Anordnung der Bilder sind die Lücken dazwischen, ergänzt der deutsche Lyriker und Übersetzer Steffen Jacobs: "Im Film sind die Bilder innerhalb des Filmes verbunden. Aber beim Comic muss der Leser die zeitliche oder räumliche Pause, die zwischen jedem Bild existiert, im Kopf auffüllen."
"Der Leser verlebendigt die Bilder erst", formuliert es Sebastian Broskwa. Er ist Verlagsvertreter für die deutschen Comicverlage Avant, Reprodukt und Edition Moderne. In dieser Funktion berät und beliefert er Händler in ganz Österreich und betreibt daneben mit "Pictopia" auch einen kleinen Laden in der Wiener Liechtensteinstraße. Japanische Mangas, Marvel-Comics und anspruchsvolle komplexe Comicliteratur für Kinder und Erwachsene finden sich dort in den Regalen, darunter auch "der" Klassiker der Comicliteratur: Art Spiegelmanns "Maus" - der bisher erste und einzige Comic, der mit einem Pullitzer Preis ausgezeichnet wurde.
Abstraktion als Stilmittel
Anders als Fotografie oder Film geht es im Comic nicht darum, eine möglichst originalgetreue Realität abzubilden, sondern Zeichnung und Abstraktion werden bewusst als Stilmittel eingesetzt.
Eine abstrahierte Darstellung mit einfacher, aber einprägsamer Bildsprache gelang Anfang der 2000er Jahre Marjane Satrapi mit ihrem Comic „Persepolis“. Die im Iran geborene und in Paris lebende Zeichnerin und Autorin beschrieb darin ihre Kindheit im Iran, ihre Zeit im Ausland und die Rückkehr ins eigene Land. Die autobiografische Handlung ist in minimalistischem Schwarz Weiß umgesetzt und wurde später auch verfilmt.
Persepolis hielt Einzug in den heimischen Buchhandlungen und nach und nach wurden für diesen und andere "neue" Comics dieser Art sogar eigene Regale freigeräumt. Die "Graphic Novel" war auf dem deutschsprachigen Buchmarkt angekommen.
Bücher statt Heftchen
Statt fortlaufender Serien waren es nun umfangreiche Einzelwerke, hart gebundene Bücher statt der üblichen dünnen Heftchen, die am Kiosk für wenige Münzen erstanden werden. Und während bei klassischen Mainstream-Comics oft bewährte Teams aus Zeichnern, Koloristen und Textern zusammenarbeiten, kommen bei der Graphic Novel Idee, Geschichte, Text und grafische Umsetzung häufig aus einer Hand.
An der Schnittstelle zwischen Literatur, Grafik und Bildender Kunst entstehen Werke, die mit oft einfachen zeichnerischen Mitteln komplexe, schwierige Themen aufgreifen, basierend auf autobiographischen Erfahrungen und Erlebnissen. Zumal die augenscheinlich simple Umsetzung auf der grafischen Ebene oft erst auf den zweiten Blick die Komplexität der Thematik erkennen lässt.
Aber gerade diese Simplifizierung und Abstraktion machen die komplexe Befassung mit schweren Stoffen und Themen einfacher, ja manchmal sogar erst möglich, sagt Elisabeth Klar und nennt ein Beispiel: Den französischen Comicband "Parole sans Papiers" - "Sprechen ohne Papiere", der autobiografische Erzählungen von Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung versammelt.
Kleine Szene macht erfinderisch
Der Begriff "Graphic Novel" selbst wurde schon in den 70er Jahren geprägt. Die große Verbreitung und Popularität seit den 2000er Jahren habe nicht nur mit ästhetisch-literarischen Kriterien zu tun, sondern auch mit der Umbenennung der "Comics" in die bildungsbürgerliche "Graphic Novel", sind sich die Experten einig.
Wobei von Massenphänomenen und Kassenschlagern in Zusammenhang mit Comic nach wie vor keine Rede sein kann. Dennoch: In Deutschland entwickelt sich gerade eine rege Comicszene rund um Verlage wie Reprodukt, Edition Moderne, Carlsen oder Avant, in Österreich fehlt eine derartige Szene noch, sagt der Comickünstler Simon Häussle.
Doch das Manko macht erfinderisch. Häussle ist Mitherausgeber unter anderem der Reihe Tonto Comics und Mitbetreiber der Kabinett-Passage, des Raumes für Comic und Anverwandtes im Wiener MQ. Dort werden regelmäßig regionale und internationale künstlerische Positionen der Comic Szene vorgestellt.
Künstler wünschen sich mehr Risikofreude
Während seit einiger Zeit eine kleine, aber aufgeschlossene Comicszene auch in Österreich stets neue Wege erprobt, ist allerdings die Neugier auf der Seite der Konsumenten noch enden wollend, stellt der Comickünstler fest.
Etwas mehr Neugier und Abenteuerlust, das wünscht sich auch Malte Steinhausen von seinen Kunden. Er betreibt seit fünf Jahren einen Comicladen in der Wiener Kirchengasse. Mittlerweile hat sich Steinhausen einen bunt durchmischten Kundenstamm aufgebaut. Dennoch, eines beobachtet er bei allen, vor allem bei Neukunden: man greife ganz automatisch zu Altbekanntem. Dabei habe er daneben so viele spannende Neuerscheinungen im Sortiment, klagt Malte Steinhausen.
Aber Comicadaptionen literarischer Klassiker scheinen den bildungsbürgerlichen Zeitgeist gerade besonders gut zu treffen. Und dabei gelte es unabhängig von Kanons und anderen Rankings noch viel zu entdecken. Denn die Mittel der kreativen Umsetzung im Wort-Bild-Gefüge seien noch lange nicht ausgeschöpft.