Roman von Kamel Daoud
Der Fall Meursault - eine Gegendarstellung
Albert Camus' "Der Fremde" war ein Welterfolg, aber auch ein Buch, das die Kluft zwischen Frankreich und seiner ehemaligen Kolonie nicht verkleinerte. Warum das so ist, schildert der algerische Schriftsteller Kamel Daoud im vorliegenden Roman.
8. April 2017, 21:58
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Kamel Daoud, "Der Fall Meursault - eine Gegendarstellung", Roman, aus dem Französischen von Claus Josten, Kiepenheuer & Witsch Verlag
Originaltitel: "Meursault, contre-enquête"
Festival d'Avignon 2015 - Meursault, contre-enquête
Als Francoise Giroud in den 1950er Jahren gemeinsam mit Jean-Jacques Servan-Schreiber die Zeitschrift "L'Express" herausgab, gehörten Francois Mauriac, Jean Paul Sartre und Albert Camus zu den Mitarbeitern. Camus kannte Giroud aber schon länger: 1942, nach dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht in Paris, wich Camus nach Clermont-Ferrand aus. Im Hotel, wo er ein Zimmer bewohnte, hatte der Herausgeber des "Paris-Soir", Pierre Lazareff, seine Redaktion untergebracht, dazu gehörte Francoise Giroud. Camus schrieb an seinem Roman "Der Fremde", an der Geschichte des introvertierten, antriebslosen Meursault, der am Strand von Algier einen ihm unbekannten Araber erschießt und sich anschließend ohne Verteidigung der Justiz überantwortet, die am Ende gar nicht anders kann als ihn zum Tode zu verurteilen. Der Araber, den Mersault am Strand von Algier tötet, bleibt hingegen namenlos.
"Der Fremde" aus Sicht eines Algeriers
In "Der Fall Meursault - eine Gegendarstellung" erzählt Kamel Daoud aus der Perspektive des Bruders des Ermordeten: Gegen den berühmten ersten Satz des "Fremden": "Heute ist Mama gestorben" setzt Daoud seinen ersten Satz: "M'ma lebt - immer noch." Auch andere Sätze aus Camus' Roman werden zitiert, variiert oder konterkariert. Der Erzähler sitzt als alter Mann in einer Bar in Oran - jener Stadt, in der Camus' Roman "Die Pest" spielt und in der der Autor Kamel Daoud lebt. Seit dem Mord am Stadtrand von Algier im Sommer 1942, um den "Der Fremde" von Camus kreist, ist mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen. Das wichtigste Anliegen des Bruders des Ermordeten ist es, diesem einen Namen zu geben: Moussa. Seine Kritik an der Romanfigur Meursault lautet: "Wie kann man jemanden nur umbringen und dann auch noch seines Todes berauben?"
Die Kritik an der Hauptfigur mutiert gleich auf den ersten Seiten auch zur Kritik am Roman selbst und an seiner Rezeption: "Diese perfekte Sprache, die selbst der Luft etwas Diamantenes verleiht, ließ allen den Mund offen stehen, und sie haben ihr Mitgefühl für die Einsamkeit des Mörders ausgesprochen und ihm die gelehrtesten Beileidsbekundungen ausgedrückt." Und etwas später konstatiert der Erzähler in Daouds Roman: "Und dann hat sich die ganze Welt aus der Sache rausgehalten, um eiligst den Körper des Opfers verschwinden zu lassen und den Tatort in ein immaterielles Museum zu verwandeln."
Auf dem Buchumschlag heißt es: "Kamel Daouds preisgekrönter Erstlingsroman gilt schon jetzt als Klassiker - gleichauf mit dem Meisterwerk von Camus, dem hier sein verlorener Zwilling an die Seite gestellt wird." Das ist nicht nur eine der vollmundigsten Verlagsankündigungen, die man seit langem zu lesen bekam, sondern auch eine der dämlichsten. Es ist erstens einmal logisch falsch, denn der Roman ist 2013 erschienen und daher kein verlorener Zwilling. Zweitens ist es absurd, einen Roman drei Jahre nach seinem Erscheinen zum Klassiker stempeln zu wollen. Und drittens ist er keineswegs auf dem Niveau von Camus‘ Roman, sondern nur als Replik interessant.
Als Replik allerdings muss man "Der Fall Meursault - eine Gegendarstellung" unbedingt lesen. Denn sein Befund "Das Wort 'Araber' taucht darin fünfundzwanzigmal auf und kein Vorname, nicht ein einziges Mal" gilt leider nicht nur für "Der Fremde", sondern auch für andere Werke von Camus, die in Nordafrika spielen - etwa für die großartige Erzählung "Der Gast". Auch wenn man den Erzähler nicht unbesehen mit dem Autor gleichsetzen darf, stellt sich hier die Frage, ob Camus, der etwa in seinen Reportagen aus der Kabylei den Kolonialismus durchaus kritisiert hat, zumindest in einigen Prosawerken selbst ein Gefangener des kolonialistischen Blicks ist.