Christliche Jenseitsvorstellungen (Johannes 20, 1 – 9)
Maria von Magdala eilt zum Grab Jesu. Es ist noch dunkel. Die Finsternis des frühen Morgens spiegelt Marias Inneres, ihre traurige Sehnsucht nach dem, den sie zärtlich Rabbuni nennt.
8. April 2017, 21:58
Sie weiß, dass sie dort nur seinen Körper finden wird. Leblos wird er sein, ohne den Lebensatem, mit dem Gott nach biblischem Verständnis dem Menschen Leben einhaucht. Maria scheint das offenbar besser als nichts. Die Nähe des toten Körpers vermag ihr vielleicht ein Stück der alten Nähe, der Zugewandtheit, der unmittelbaren Gegenwart Jesu wiederzugeben. Maria spricht nicht vom Leichnam, vom Körper, sondern immer von ihm, ihrem Herrn.
Doch der Geliebte ist nicht da, nicht einmal als bloßer Körper. Deshalb muss Maria sprechen. Die Abwesenheit setzt sie in Bewegung, lässt sie reden. Sie läuft zu den Jüngerinnen und Jüngern: „Man hat den Herrn aus dem Grab weggenommen und wir wissen nicht, wohin man ihn gelegt hat.“
Marias Bericht gibt wieder, was im Grund alle, auch die Leserinnen und Leser des Johannes-Evangeliums denken müssen. Das Grab ist leer, weil jemand den Leichnam weggenommen hat. Die Grabeserzählung wird diese Erklärung nach und nach entkräften. Petrus und der namenlose Jünger, den Jesus liebte, eilen in dem berühmten Wettlauf zum Grab. Zweimal überholt der geliebte Jünger Petrus. Als erster kommt er beim Grab an. Als erster kommt er zum Glauben an die Auferstehung. Maria nimmt einen anderen Weg zum Glauben. Noch einmal wird sie fragen, wohin man ihren Herrn gelegt hat. Und erst im Gespräch mit Jesus, den sie zunächst für den Gärtner hält, kommt sie zu der Überzeugung, dass Jesus da ist.
„Gott hat Jesus von den Toten auferweckt.“ So fasst die frühe Kirche die Botschaft von Ostern zusammen. Für die Christen begründet die Auferstehung Jesu die Hoffnung, dass der Tod nicht das letzte Wort hat. Der Auferstehungsglaube rückt die Frage nach dem „Wohin“ der Maria in ein anderes Licht. Sie bekommt eine theologische Bedeutung: Woher ist Jesus gekommen – wohin wird er gehen? Maria darf den Auferstandenen nicht mehr berühren. Er wird nicht da bleiben. Mit der sogenannten Himmelfahrt bricht die sichtbare Anwesenheit des Herrn ab. Wohin ist er gegangen? Wohin werden wir gehen, wenn wir gestorben sind? Die Frage nach dem Wohin verbindet die Sehnsucht der Maria nach dem Herrn mit der Frage nach dem eigenen Schicksal.
Die christliche Tradition hat die Frage nach dem Wohin beantwortet, indem sie im Anschluss an biblische Vorstellungen eine Topographie des Jenseits entworfen hat. Das Jenseits wird räumlich dargestellt. Es gibt verschiedene Orte, an die die Seele gelangen kann. In der christlichen Ikonographie liegt der Himmel oben – licht, luftig und hellblau wie in dem berühmten Fresko Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle. Unten ist der düster-feurige Raum der Hölle, in dem die berüchtigten Höllenqualen herrschen. Wer wohin kommt, darüber entscheidet das Gericht.
Michelangelo setzt dies ins Zentrum. Zwischen Himmel und Hölle thront Christus als Weltenrichter und teilt die Menschen in Schafe und Böcke, in Selige und Verdammte. Die christliche Tradition kennt fürchterliche Ausmalungen dessen, was die Seele zu erleiden hat, sollte sie in der Hölle landen. Die Idee des Fegefeuers, die ab dem 12. Jahrhundert Verbreitung findet, ist demgegenüber eine Milderung. Die Seelen, die Gott nicht verwirft, die aber dennoch nicht rein sind, erfahren im Fegefeuer eine Läuterung, bevor sie schließlich in den Himmel aufgenommen werden. Doch waren diese räumlichen Spekulationen um eine Topographie des Jenseits immer nur Krücken – Fiktionen, die etwas entwerfen, das niemandem zugänglich war. Im 20. Jahrhundert hat insbesondere der große Theologe Karl Rahner davor gewarnt, die eschatologischen Aussagen des Christentums als Reportagen über die Zukunft zu lesen.
Mit den räumlichen müssen auch die zeitlichen Darstellungen hinterfragt werden. Diese treten am deutlichsten dort zu Tage, wo darüber spekuliert wird, was mit dem einzelnen Menschen nach dem Tod geschieht. Im Tod, so die traditionelle Vorstellung, trennt sich die Seele vom Körper. Der Körper bleibt, wo er ist, was der menschlichen Erfahrung entspricht. Die Seele dagegen ist unsterblich. Dabei bedeutet eine Seele zu haben vor allen Dingen, für Gott ansprechbar zu sein. Die Beziehung zu Gott reißt im Tod nicht ab. Zudem haben sich der Seele auch alle Erfahrungen eingeprägt, die der Mensch in seinem Körper gemacht hat. Die Seele speichert, was der Körper gefühlt, empfunden, gelitten und genossen hat, und mit all dem steht die Seele nun vor dem Gericht Gottes. Erst am Ende der Zeit, wenn schließlich alle Toten auferstehen, wenn Christus endgültig wiederkehrt und das Reich Gottes in seiner Fülle errichtet ist, werden Körper und Seele wieder vereint. Der Körper ist dann verwandelt. Er ist ohne Bedürfnisse, kennt keinen Schmerz und keinen Verfall. Aber, so denkt es der mittelalterliche Mystiker Bernhard von Clairvaux: Er befähigt die Seele dazu, Genuss zu empfinden und sich an der Gegenwart Gottes zu freuen. Was aber ist von dieser Vorstellung eines zeitlichen Ablaufs im Jenseits zu halten? Bricht nicht nach dem Tod die Zeitlichkeit ab? Was aber soll dann die lineare Verlängerung der Zeitachse über den eigenen Tod hinaus bis zur allgemeinen Auferstehung der Toten?
Noch einmal zurück zu Karl Rahner: Die Reden über das Jenseits sind keine Informationen darüber, was den Menschen erwartet. Sie qualifizieren aber unsere jeweilige Gegenwart. All diese Schilderungen halten fest, dass dem Leben von Gott her Bedeutung zukommt. Der Mensch wird nicht zu einem Zeitpunkt A geboren, stirbt zu einem Zeitpunkt B und sein Leben verschwindet wieder ins Nichts. Damit wäre es letztlich gleichgültig, wie wir unser Leben verbringen, was wir tun, welches Unrecht wir erleiden oder verursachen. Stattdessen hält die Vorstellung vom Gericht daran fest, dass es Gutes und Böses gibt und dass es sich lohnt, das Gute zu tun. Es ist die Drohung der Hölle, die mahnt, dass der Mensch sein Leben verfehlen kann. Und es ist die Hoffnung auf den Himmel, die eine bleibende Sehnsucht offen hält, dass irgendwann alles gut werden möge. Damit lenken die Bilder vom Jenseits den Blick zurück auf das Diesseits.
Letztlich geht es in den christlichen Jenseitsvorstellungen um Beziehung. Damit sind wir wieder beim Ostertag und der Suche Marias von Magdala. Für Maria hat sich in der Beziehung zu Jesus außergewöhnliches ereignet. In der Begegnung mit ihm hat sie Liebe erlebt, Sinn verspürt, Fülle erfahren. Mitten im Leben hat Jesus sie spüren lassen, was Himmel bedeutet. Und damit ihr Leben verändert. Das dies von bleibender Bedeutung ist, dafür steht die Botschaft der Auferstehung.