"Es gibt kaum einen gesunden Zugang zu Fußball"

Der Psychiater und Neurologe Peter Gathmann erklärt, warum es keinen gesunden Zugang zu Fußball gibt und sich (fast) alle von dem Wahnsinn anstecken lassen.

Was kann man denn über die Spezies Mensch erfahren, wenn man das Phänomen Fußball aus psychologischer Sicht untersucht?

Ich bin als Psychotherapeut in meinen Trainingsanalysen sehr geprägt worden von der Individualpsychologie, also von der Alfred Adler Psychologie. Und diese Psychologie hat zwei Basics: Der Komplex der Minderwertigkeit und das Gefühl der Gemeinschaft. Diese zwei Basics erscheinen mir äußerst nützlich, um das Phänomen zu erklären. Beim Gefühl der Minderwertigkeit, der Unzulänglichkeit des Einzelnen, das ein humanes Phänomen ist - es gibt kaum jemanden, der auch bei normalen Wachstumsbedingungen nicht als Kind, dieses Gefühl kennt, ich bin zu wenig, ich kann etwas nicht, ich reiche nicht aus und versucht aus diesem Gefühl herauszukommen. Dieser Versuch ist die Erklärung für eine ganze Menge Leistungen in der Menschheit und ein zentraler Punkt, um zu erklären, warum Fußball bewegt.

In wie weit kann denn der Einzelne, gerade als Zuschauer, die eigene Unzulänglichkeit überwinden?

Eines der Benefits für den Zuschauer ist, in dieser Konstellation, wo er sich befindet mit den anderen: Wir kennen uns aus. Das Erlebnis des Expertentums. Und bei dieser raschen Einigung, weil es wird ja über Regeln und Regelverstöße diskutiert, ist sehr bald ein Gefühl, erstens wir sind eine Gruppe, eine kleinere, eine größere Gruppe, und endlich aus dem Herauskommen der Unzulänglichkeit, der Minderwertigkeit.

Jetzt ist es ja gerade bei Großereignissen wie der Fußballeuropameisterschaft nicht so, dass sich nur "Experten" am Rand des Spielfelds versammeln. Wie lässt sich die Masseneuphorie erklären?

Es ist ja so, das Individuum hat eine Sehnsucht, sein Ich zu verlieren. Die Großen Philosophien, die Menschheitslehren zielen auch darauf ab, dass der einzelne seine Ich-Haftigkeit verliert. Seine dumme, kleine, zu nichts führende Ich-Haftigkeit. In der Masse bist du ein Teil, dein Schreien vor Wut, dein Schreien vor Begeisterung ist individuell nichts, aber in der Masse ist das etwas Riesiges. Das heißt, du wirst mitgerissen, genauso, wie wenn du im Ozean badest, da ist der Einzelne nichts und die Natur alles. Das heißt, diese Begeisterung ist ansteckend und es ist eine Ent-Ichung und das ist der Benefit.

Das heißt, wer sich nicht am Ufer festhalten kann, wird mitgerissen in eine Massenhysterie?

Es gibt kaum einen gesunden Zugang zu Fußball. Das ist ein Wahnsinn, etwas, was dich hineinzieht in die Irrationalität. Das holt die gescheitesten Köpfe in den Wahnsinn und dieser Wahnsinn ist ja intendiert, das ist ja das Ziel. Weil wenn ich mich "ent-ichen" will, kann ich mich ansaufen oder ich kann natürlich auch ein Fußballevent womöglich von meiner Gruppierung beobachten. Dann hab ich genau das gleiche. Ich bin "ent-icht", ich bin in einer Gemeinschaft, ich brülle vor Begeisterung, ich brülle vor Schmerz und das Ich, das einzelne Ich zählt nicht mehr.

Wenn Fußball zum kollektiven Wahnsinn führt, müsste man den Sport dann aus Sicht der politischen Obrigkeit nicht verbieten?

Die Obrigkeit besteht aber auch aus lauter Individuen und keiner dieser Individuen kann sich als Fan oder als Nicht-Fan dem entziehen. Auch wenn du kein Fan bist, du kannst nicht sagen, mich interessiert nur Minigolf. Das ist ein No-Go. Du hast dich eben für den Fußball zu interessieren. Sonst gehörst du nicht zu dieser großen Gruppe, von der du dir ja wünschest, dass sie dich wählen. Ergo, auch wenn du ein Anti-Fan bist, musst du so tun als ob.

Interview: Marlene Nowotny