Klassiker des 19. und 20. Jahrhunderts in Neuausgaben

Das bewegte Leben

Früher einmal, beklagt Gustave Flaubert, habe man mit der Kutsche von Rouen nach Paris drei Tage gebraucht und dabei Stoff für einen ganzen Roman gesammelt. Etwa 130 Kilometer Straße liegen zwischen den beiden Städten. Heute - und er meint das Jahr 1847 - sei alles auf Beschleunigung ausgerichtet, seien die Menschen nervös und hektisch und hätten keine Zeit für Abenteuer oder ganz einfach den Blick auf die Landschaft.

Alte Lokomotive

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In wenigen Stunden sei man mit der Eisenbahn nicht nur in Paris, sondern irgendwo in der Provinz, wo man zuvor nie hinwollte. In der Bretagne zum Beispiel. Die hat heute noch einen rauen Charme, zur Mitte des 19. Jahrhunderts war der Nordwesten Frankreichs ein noch weit hinter der Gegenwart zurückliegender Landstrich, abseits der zweifelhaften Errungenschaften der Moderne.

Flaubert und sein Freund Maxime Du Camp, beide Mitte zwanzig, reisen mit dem Zug in die Vergangenheit, die sie staunend und, wie es ihre Art ist, spöttisch zur Kenntnis nehmen. Zugleich genießen sie das Herauskippen aus dem bewegten Leben, das sie aus Rouen und mehr noch aus Paris gewohnt sind, den Familien- und Beziehungskrisen, dem Gesellschaftsleben, den Versuchen, sich als Literaten zu etablieren. Die beiden Männer schreiben gemeinsam ein Buch über ihre Reise: "Über Felder und Strände - Eine Reise in die Bretagne". Das Buch erscheint allerdings erst posthum, 1886.

Die innere und die äußere Zeit

Dass sich das Leben beschleunigt, gehört zu den Grunderfahrungen der Moderne, die mit Aufklärung, Individualisierung und Industrialisierung an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert einsetzt. Diese Beschleunigung wird erfahren als Gleichzeitigkeit von Zeitebenen, die nicht mehr aufeinander abgestimmt sind. Die "innere" Zeit verläuft etwa viel langsamer als die "äußere" Zeit. Der Einzelne hat das Gefühl, nicht mehr mitzukommen, sich um vieles nicht mehr kümmern zu können, überrollt zu werden.

In dieser angespannten Situation wird das Reisen um des Reisens willen entdeckt. Man ist unterwegs, um die innere Zeit wiederzufinden. Dieser romantische Topos des Fortgehens, um zu sich zu kommen, durchzieht die Literatur bis weit ins 20. Jahrhundert.

Aufgezwungene Mobilität

Eine andere Begleiterscheinung der Moderne ist das unstete Leben, eine aufgezwungene Mobilität, sei es aus politischen, sei es aus ökonomischen Gründen. Bewegung sozusagen als Kollateralschaden wirtschaftlicher und nationaler Krisen. In John Dos Passos’ Roman "Manhattan Transfer" aus dem Jahr 1925 geht es um die Großstadt als ruhelosen Organismus, der sich ständig in Bewegung hält durch die Hoffnungen und Ängste seiner Bewohner/innen.

Der Roman "Kyra Kyralina" des rumänischen Dichters Panait Istrati handelt von einem ökonomischen Abstieg und einer ziellosen Wanderung durch den Vorderen Orient. Oder Lasik Roitschwantz, die titelgebende Hauptfigur von Ilja Ehrenburgs satirischem Roman "Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz" aus dem Jahr 1928: Der jüdische Schneider aus Weißrussland versucht, sich den Zuständen in der Sowjetunion nach der Revolution anzupassen, landet aber immer wieder im Gefängnis. Er versucht sein Glück als Kaninchenzüchter, als revolutionärer Literaturkritiker, kommt nach Warschau, Posen, nach Königsberg in Preußen, Berlin, Magdeburg, Stuttgart, Mainz, Frankfurt am Main, Paris, London und stirbt schließlich in Palästina. Kein Weg führt zu einem Ziel.

Rückkehr mit Geld

Die Flucht vor den Gesetzeshütern zwingt den 15-jährigen John Trenchard und seinen väterlichen Freund, den Schmuggler Elzevir, ihren Heimatort Moonfleet zu verlassen. In J. Meade Falkners 1898 erschienenem Roman "Moonfleet" begeben sich die beiden auf eine Schatzsuche, die sie zu einem verschollenen Diamanten führt. John träumt davon, "als der reichste Mann in der ganzen Gegend" nach Moonfleet zurückzukehren und seine Jugendliebe Grace zu heiraten. Doch was wäre ein Abenteuerroman ohne zahlreiche Hürden für den jungen Helden?

Auch in Emily Brontës einzigem Roman "Sturmhöhe" kommt Heathcliff nach Jahren der Selbstverbannung als reicher Mann zu seiner einstigen Geliebten Catherine zurück. Allerdings ist der düstere Romanheld auf fürchterliche Rache aus.